Bei einer Recherche zu meinem Abiturjahr 1968 bin ich auf einen alten Spiegelartikel gestoßen, der im Jahr 1967 erschien. Es geht einesteils um den Tod von Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967 und die Auswirkungen auf die 68-er Revolte. Andernteils auch um die Auswirkungen 30 Jahre danach.
DIE
ACHTUNDSECHZIGER Vollstrecker des Weltgewissens
Erst
der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 machte aus einer
lustigen Revolte den Aufstand der 68er, der Deutschland veränderte.
Die Erfolge und Misserfolge dieser Kulturrevolution beleben und
lähmen die Republik bis heute.
Von
Cordt
Schnibben
01.06.1997,
13.00 Uhr • aus DER
SPIEGEL 23/1997
Ob sie
das elegante Cape und die Ohrringe an diesem Tag getragen hat, weil
sie aussehen wollte wie eine Opernbesucherin oder weil sie damals
immer so angezogen war, weiß Friederike Hausmann nicht mehr.
Ob er
bei diesem Einsatz vor der Deutschen Oper in Berlin eine Walther P 38
oder eine PPK 7,65 mm umgeschnallt hatte, weiß Hartmut
Moldenhauer nicht mehr.
Wann
genau am Abend er vor der Oper eintraf, weiß Siegward
Lönnendonker nicht mehr. Aber dass zu diesem Zeitpunkt schon die
Nachricht die Runde machte, ein Polizist sei getötet worden, das
weiß Lönnendonker genau.
Dass
ihre Hände voller Blut waren, nachdem sie den Kopf des ohnmächtigen
Studenten auf ihre Handtasche gebettet hatte, hat Friederike Hausmann
nicht vergessen, schon deshalb nicht, weil sie ihre roten Hände
immer wieder gesehen hat in ihren Träumen. Irgendwo abgewischt hat
sie ihre Hände an diesem Abend, und dann hat sie weiter »Räuber
und Gendarm« gespielt, wie sie heute sagt, ist mit anderen Studenten
durch die Straßen rund um den Ku''damm gezogen, auf der Suche nach
Polizisten, vor denen man weglaufen konnte.
Erst
gegen Mitternacht war sie dann wieder zu Hause, in der Wohnung, in
der sie zusammen mit fünf Studenten lebte, und da muss sie dann wohl
noch den weißen Seidendamast aus dem Schrank geholt haben, den sie
sich aus Ägypten mitgebracht hatte, und sie veranstaltete eine
kleine Modenschau, guckt mal, was das für ein tolles Kleid wird.
Erst am
nächsten Morgen dämmerte ihr, was für einen Abend sie erlebt
hatte: dass dieser Junge im roten Hemd gestorben war, dass sie den
ersten Toten der Studentenbewegung in den Händen gehalten hatte,
dass an dem SDS-Gerede von den »Faschisten«, die überall Jagd
machten auf die Studenten, wohl doch was dran sein musste und dass
man sich nun wehren müsse gegen »ein neues ''33« und dass es nun
wohl vorbei sei mit dem großen Studentenspaß, der in den
Morgenzeitungen nur noch »roter Terror« genannt wurde.
Für
den jungen Polizisten Moldenhauer, der den ganzen Abend mit seiner
Einheit als letzte Sicherung vor dem Haupteingang der Oper darüber
gewacht hatte, dass Bundespräsident Heinrich Lübke und dessen Frau
Wilhelmine und dem persischen Schah und dessen Frau Farah Diba nichts
passiert, war die Nachricht vom Tod eines Studenten namens Benno
Ohnesorg wie ein Einsatzbefehl. Das würde Ärger geben, das war ihm
sofort klar, und als der Bürgermeister dann auch noch für die
nächsten Tage ein generelles Demonstrationsverbot verhängte, war er
auf das Schlimmste gefasst. Der Hass allerdings, der ihm fortan
entgegenschlug, übertraf seine Befürchtungen.
Lönnendonker,
Student der Chemie und der Soziologie und der Mathematik, begriff
schon in der Unglücksnacht, dass da etwas Neues in Bewegung kam,
weil im Republikanischen Club und im SDS-Zentrum die verstörten
Demonstranten zusammenströmten und plötzlich nach Waffen verlangten
und die Kommilitonin Gudrun Ensslin vorschlug, eine Polizeikaserne zu
überfallen.
Mit
jedem Jahr, das seither verging, wurde klarer, was an diesem 2. Juni
1967 passiert war, und jetzt, 30 Jahre danach, blicken die
Übersetzerin Hausmann, der Wissenschaftler Lönnendonker und der
Leitende Polizeidirektor Moldenhauer auf einen Tag zurück, der so
etwas ist wie die Klimascheide zwischen zwei Gesellschaften.
Bis
dahin war die Bundesrepublik Deutschland eine Art wilhelminischer
Obrigkeitsstaat, in dem sich der Untertan schon dann rechtswidrig
verhielt, wenn er sich öffentlich über einen Polizisten empörte,
der sich rechtswidrig verhielt; ein Land, in dem das Gitarrespielen
an einem Brunnen ausreichte, um einen Polizeiaufmarsch auszulösen,
und in dem junge Polizisten wie Moldenhauer gedrillt wurden, als
sollten sie in den Bürgerkrieg ziehen.
Studenten
wie Lönnendonker machten sich Anfang der sechziger Jahre schon
dadurch verdächtig, dass sie Marx lasen, etwas, von dem der normale
Student annahm, dass es sowieso verboten sei. Zwei Drittel der
Studenten bezeichneten sich als apolitisch; die Hochschullehrer
herrschten in ihren Talaren wie Fürsten über die Fakultäten, und
wenn Studenten doch mal aufmuckten, konnte einem ehrwürdigen
Professor schon mal herausrutschen: »Sie gehören alle ins
Konzentrationslager.«
Politische
Betätigung an den Hochschulen war nicht üblich, es sei denn, es
wurde des 17. Juni gedacht; Diskussionsforen gegen die
Südostasienpolitik der USA wurden verboten; und gegen den
Vietnamkrieg demonstrierende Studenten mussten sich von Willy Brandt
davor warnen lassen, »dass wir Deutsche uns in der Weltpolitik als
Lehrmeister aufspielen«. Für die Boulevardpresse waren
Demonstranten sowieso »Rowdys« und »Krawallmacher«, für die FAZ
galten die Straßenumzüge Gleichgesinnter als »das dümmste und
vergeblichste Mittel politischer Betätigung«.
Jede
Menge Gebote und Verbote hatte die deutsche Sofakissendiktatur ihren
jungen Bürgern zu bieten - Sitz gerade, geh zum Friseur, mach die
Negermusik leiser, geh zur Tanzstunde, wasch den Wagen, und wenn
Friederike Hausmann zusammen mit ihrem Freund in ein Hotelzimmer
wollte, wies man ihr die Tür, und wenn sie im Haus ihrer Eltern
übernachteten, hätten die Nachbarn Anzeige erstatten können wegen
Kuppelei.
Um
Distanz zu bekommen zu diesem Leben, das nicht ihr Leben war, sondern
das Leben ihrer Eltern, zogen in den sechziger Jahren immer mehr
Westdeutsche in die großen verlassenen Wohnungen West-Berlins und
begannen, ein neues Zusammenleben auszuprobieren. Sie saßen in
Klubs
herum, sie lasen Sartre und Camus, sie verschlangen Marcuse, Marx und
Freud,sie hörten Dylan und die Doors, sie tranken Rotwein und
Cola-Rum, sie schluckten Captagon und Rosimon Neu, sie empörten sich
über das schlechte Mensaessen und Bomben auf Hanoi, sie stürzten
den Asta-Vorsitzenden Eberhard Diepgen, der Studenten in einer
»freiwilligen Polizeireserve für Krisenzeiten« organisieren
wollte, sie sprengten Vorlesungen in Polizeiuniformen und gingen
dafür ins Gefängnis, sie bejubelten The Who und den Gitarristen
Pete Townshend, weil für ihn der Konflikt zwischen den Generationen
»der Beginn einer großen gesellschaftlichen Revolution« war, sie
hatten ihren Spaß und brachten alle Autoritäten zum Tanzen.
Wenn
Friederike Hausmann, erschöpft vom Studium der Altphilologie und vom
Rebellenleben, um vier Uhr morgens mit dem Nachtbus nach Hause fuhr,
blickte sie voller Verachtung und Mitleid auf die Menschen, die zur
Arbeit fuhren. So zu leben, als »Spießer«, als »Konsumtrottel«,
als »Deutscher«, schien ihr unmöglich; sie lebte in dem Gefühl,
ehrlicher zu leben, sinnvoller und moralischer, und zu denen zu
gehören, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun,
wie ein Surfer, der auf einer gewaltigen Welle vor Glück brüllend
dem Strand entgegenfliegt.
Auch der
Polizist Moldenhauer spürte die Kraft dieser Bewegung, die ihn
ratlos machte und kraftlos und so neugierig, dass er nach
Dienstschluss in Teach-ins in der Technischen Universität schlich.
Dass das Hochschulgesetz reformiert werden musste, leuchtete ihm
schließlich ein, dass der Vietnamkrieg beendet werden sollte, auch,
aber dass dieser Dutschke als gefährlicher Aufhetzer galt, war
genauso klar. Im einzelnen mochten die Studenten recht haben, im
ganzen schienen sie ihm größenwahnsinnig.
Das
Zentrum der Bewegung, die Führung des Berliner SDS, tagte
gelegentlich in Lönnendonkers Zimmer, wenn dieser spätabends in
seine Wohngemeinschaft kam. Den Schah aus Persien wollten die SDSler
eigentlich ungeschoren davonkommen lassen, weil man gerade damit
beschäftigt war, den US-Imperialismus und seine Verbrechen in
Vietnam zu bekämpfen.
Aber die
Journalistin Ulrike Meinhof hatte in einem offenen Brief an die
Kaisergattin Farah Diba Hunger, Folter, Mord und Rauschgiftsucht in
Persien angeprangert; auch die persischen Exilstudenten hatten
Stimmung gemacht gegen den verschwendungssüchtigen Diktator; Rainer
Langhans, Fritz Teufel und andere Kommunarden mobilisierten, und
deshalb rief schließlich auch der SDS zu jener Demonstration, auf
der das alte wilhelminische Deutschland und das neue moderne
Deutschland aufeinander krachten.
Was
sich jahrelang an Spannungen aufgebaut hatte im
Wirtschaftswunderdeutschland, entlud sich an diesem heißen Juniabend
gewaltsam. Auf alles, was die Jugendlichen hassten an der Welt,
konnten sie vor der Oper Parolen und Farbeier schleudern - auf den
Pomp lächerlicher Autoritäten, auf die Gewalt der Staatsdiener, auf
die Armut in der Dritten Welt, auf die dunkle Vergangenheit der
deutschen Elite. Und auf alles, was die Staatsdiener hassten an
diesen respektlosen Untertanen, konnten sie ihre Gummiknüppel
niedersausen lassen - auf ihre dämlichen Sprechchöre, auf ihre
ungewaschenen Haare, auf ihr Geschwätz, auf ihre überheblichen
Blicke, auf ihre Schlaumeier-Fressen.
»Heute
gibt''s Dresche«, hatten Polizisten schon versprochen, als der Schah
noch gar nicht zu sehen war, und einem Festgenommenen hatten die
Polizisten zugerufen: »Wenn du noch ein Wort sagst, schlag'' ich
dich tot, du Schwein.« Vorm Betreten der Oper hatte Berlins empörter
Bürgermeister Heinrich Albertz seinem Polizeipräsidenten
zugezischt: »Wenn ich herauskomme, ist alles sauber«, und so
stürmten seine Männer, kaum erklangen die ersten Takte von Mozarts
»Zauberflöte«, auf die »Störer« los.
An die
große Panik kann sich Friederike Hausmann erinnern, an das
verzweifelte Suchen nach einem Ausweg aus der schreienden, blutenden,
trampelnden Menschenmenge, und diesen fand sie durch eine Gasse von
prügelnden Polizisten in einem Hinterhof.
Dort
standen sich dann plötzlich im Dämmerlicht gegenüber der Student
Benno Ohnesorg und
der Kripobeamte Karl-Heinz
Kurras,
zufällig, und doch so logisch, als hätte sie jemand dorthin
befohlen. Der eine, der Germanistik und Romanistik studierte, wollte
sich zum ersten mal selbst ein Bild machen von dem Treiben der
rebellierenden Studenten; der andere, der als ziviler Greifer
»Rädelsführer« festnehmen sollte, fürchtete, »dass die
Demokratie bei dieser weichen Welle zugrunde gehen« könne. Beim
Aufeinandertreffen des einen Deutschen mit dem so ganz anderen
Deutschen löste sich auf seltsame Weise ein Schuss (siehe Seite
114).
Der
Tod des Studenten, über den seine Professoren sagten, er sei ein
zurückhaltender, höflicher, neugieriger und gewissenhafter Student
gewesen, machte aus einer antiautoritären Revolte in West-Berlin die
Protestbewegung der 68er, die das Land umkrempelte und bis heute
prägt. Für die Zehntausende, die sich in vielen Städten zu
Trauermärschen zusammenfanden, war dieser Tote der Beweis dafür,
dass die westdeutsche »Demokratie« nur auf dem Papier des
Grundgesetzes existierte und dass »die Verwirklichung demokratischer
Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen« erkämpft werden
müsse.
65
Prozent der Studenten gaben später an, in den Wochen nach dem Tod
seien sie politisch geworden. »Ich bin politisiert worden«, sagten
sich die Leute damals, und das war eine Art Eintrittserklärung in
eine damals weltumspannende Sekte, deren Bekenntnis war: Alles ist
politisch, die Gesellschaft sowieso, die Polizei, die Hochschule, das
Theater, die Literatur, die Musik, die Familie, der Orgasmus, und
darum müsse man alles politisch sehen und natürlich alles befreien.
»Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie
Gesellschaft freier Individuen«, formulierte Rudi Dutschke das
Programm dieser Revolte, die kein Programm hatte.
»Es
handelt sich nicht um einzelne Verrückte«, hieß es in einem
Analysepapier eines Berliner Senatsdirektors, »es sind die
fleißigsten und tüchtigsten Studenten, es ist die allgemeine
Grundstimmung unter jungen Leuten. Wenn nicht auf breiter Front das
Nötige und Geeignete geschieht, wird Berlin sehr schnell eine
existentielle Krise erleben können.«
Man
sei durch das Verhalten der Staatsmacht mehr oder minder gezwungen
worden, revolutionär zu werden, so beschreibt Friederike Hausmann
die Entwicklung der zunächst vorpolitischen Bewegung zum politischen
Aufstand.
Während
einer der vielen Vollversammlungen in der FU stand ein Student der
Germanistik auf und hielt eine lange flammende Rede, die so etwas wie
das Manifest der 68er wurde und die mit den Worten endete: »Wir
haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl
wir herausgefunden haben, dass wir gegen die Universitätsverfassung
reden können, soviel und solange wir wollen, ohne dass sich ein
Aktendeckel hebt, aber dass wir nur gegen die baupolizeilichen
Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau
ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass
wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über
Vietnam zerstören können, dass wir erst die Hausordnung brechen
müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben
wir es endlich gefressen, dass wir gegen Prüfungen, in denen man nur
das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen
lernt - dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten
argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in
den Hausflur auf den Fußboden setzen.«
Der
Name des Studenten: Peter Schneider, später bekannt geworden als
Schriftsteller, Essayist und Kritiker der 68er.
Zehntausende
Schüler, Lehrlinge und Studenten in Bremen, Mönchengladbach und
sonstwo verfielen in den folgenden Monaten und Jahren dem Rausch, den
»Kampf gegen das Establishment« aufzunehmen, überall
»Manipulation« zu wittern und mit ätzender Kritik das Weltbild der
Autoritäten lächerlich zu machen.
»Wir
wussten alles«, sagt Lönnendonker, »wir konnten erklären, wie der
Kapitalismus funktioniert und warum er überflüssig war, wir hatten
den Marxismus und Freuds Psychoanalyse, und wir hatten auf alles eine
Antwort.« Wie Vollstrecker des Weltgewissens fühlten sich die 68er,
wie Partisanen einer neuen Weltordnung, die von Frieden, Liebe und
Gleichheit zusammengehalten wird. Wo sie hinblickten, ob nach San
Francisco, Havanna, Paris oder Tokio, entdeckten sie Mitkämpfer, und
wo immer sie hinkamen, konnten sie ihren Schlafsack ausrollen und
eine selbstgedrehte Zigarette schnorren.
Sie
konnten gleichzeitig narzisstisch und solidarisch sein, weil
Arbeitslosigkeit, Drogentod und Aids noch weit weg waren und weil
Atomstrahlen, Umweltgifte und das Ozonloch noch keinen ängstigten.
Sie lebten in einer heilen Welt und in der Gewissheit, den Sex, die
Schule, das Wohnen, die Musik und die Demokratie neu erfinden zu
dürfen; und nur eine Macht konnte sie daran hindern, ihren
Menschenversuch zum glücklichen Ende zu bringen: das Kapital.
Mit
ihren Demonstrationen, Besetzungen, Love-ins und Go-ins setzten diese
Träumer des Absoluten der Gesellschaft so zu, dass der Berliner
Justizsenator vorschlug, verhaftete Demonstranten generell auf ihren
Geisteszustand untersuchen zu lassen. Vermieter in Berlin begannen,
bevorzugt an linke Wohngemeinschaften zu vermieten, damit die
Wohnungen nach der Revolution nicht mehr beschlagnahmt zu werden
brauchten.
Bei
Moldenhauer ließ der allgemeine Ungehorsam die Haare über seinen
Uniformkragen wachsen und auf der Oberlippe einen Bart sprießen,
sehr zum Missfallen seiner Vorgesetzten und Kollegen. Er war in
vorderster Reihe im Studentenkrieg eingesetzt, er gehörte zur
»Gruppe 47«, einem Diskussionskommando aus 47 Polizisten, das 1969
nach zwei Jahren voller Straßenschlachten, Knüppelfesten und
Wasserwerferorgien gebildet worden war, um die Fronten aufzulockern.
Der
Staat war nun hochgerüstet, die Staatsdiener liefen voll verpanzert
hinter den Störern her. Moldenhauer spürte bei seinen
Diskussionseinsätzen, wie sich die Studenten zu trennen begannen in
solche, mit denen man reden konnte, und solche, die in ihm, egal was
er sagte, den Handlanger eines Staatsapparates sahen, den es zu
zerschlagen galt.
Dass
die Bundesrepublik wirklich im Bürgerkrieg versinken könnte,
fürchtete er nie, aber dass bestimmte Gruppen der
Außerparlamentarischen Opposition (Apo) bereits in dieser
Wahnvorstellung lebten, merkte er schon. Spätestens als in
Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze hochgingen und einer der Täter,
Andreas Baader, mit Ulrike Meinhofs Hilfe aus dem Gefängnis befreit
wurde, war klar, dass die zweijährige Straßenparty zu Ende war. Die
Apo begann, sich selbst zu zerstören.
Die
wenigsten griffen zur Kalaschnikow, viel mehr gingen in realistischer
Einschätzung der Schwäche studentischer Kampfverbände auf die
Suche nach dem revolutionären Proletariat. Die einen glaubten, es in
der 1968 neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zu
finden, die anderen gründeten die Kommunistische Partei
Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO), wieder andere die
Proletarische Linke/Parteiinitiative (PL/PI) oder den Kommunistischen
Bund Westdeutschland (KBW); etwa hunderttausend 68er machten sich auf
den Marsch in die SPD.
392
sogenannte linksextremistische Organisationen zählte das
Innenministerium 1971. Bis 1976 wurden fast ein halbe Million Lehrer
und andere Beamtenanwärter auf ihre Verfassungstreue überprüft -
so versuchte der Staat den von Rudi Dutschke angekündigten »Marsch
durch die Institutionen« aufzuhalten. Friederike Hausmann durfte
nicht Lehrerin werden, weil sie Mitglied in der »Liga gegen den
Imperialismus« war und das Nummernschild ihres Autos ein paarmal in
der Nähe verbotener Demonstrationen notiert worden war. Sie zog 1977
als Übersetzerin nach Italien und kehrte erst 1984 nach München
zurück.
Ihre
Jahre in ihrer antiimperialistischen Sekte sind ihr um so
unheimlicher, je weiter sie zurückliegen. Der Realitätsverlust, die
Ergebenheit und die Kritiklosigkeit machen ihr angst; über das
Leben, das sie führte - nach drei Stunden Schlaf um vier Uhr
aufstehen, um Flugblätter an schimpfende Arbeiter zu verteilen -,
kann sie heutzutage immerhin lächeln.
Warum
eine mächtige, lustvolle Bewegung, die alle Autoritäten in Frage
stellte, zerfiel in autoritätsgläubige, schlechtgelaunte
Kleingartenvereine, versteht sie sowenig wie Lönnendonker. Er
musste, zum Zwecke der Arbeiteragitation, ein halbes Jahr in einem
Stahlbetrieb arbeiten, zog es aber dann doch vor, aus der PL/PI
auszuscheiden, sich fortan und bis heute mit dem Schicksal seiner
Kampfgenossen zu beschäftigen und an der FU das Archiv »Apo und
soziale Bewegungen« aufzubauen.
Das
Ende der Apo, so sieht es ihr gründlichster Erforscher, kam, als sie
anfing, die Antworten zu geben auf die Fragen, die sie aufgeworfen
hatte. Wie können Kindergärten kindgemäßer sein, wie können die
Schulen lebensnäher, wie können die Hochschulen berufsorientierter
und demokratischer werden - darauf Antworten zu geben war noch
relativ einfach. Wie kann die Demokratie weniger parteienbeherrscht
sein, wie kann der Wohlstand gerechter verteilt, wie kann die
Wirtschaft krisenfester, wie kann die Gesellschaft durchlässiger
werden - darauf fiel den Chefideologen der Apo nichts ein, nur immer:
Sozialismus. Und wie der auszusehen habe und wie man ihn erreichen
könnte, darüber stritten sich die kommunistischen Gruppen so lange,
bis von ihnen nichts mehr übrig war und schließlich auch der
Sozialismus von der Erde verschwunden war.
Die
simpelste Antwort auf alle Fragen und das radikalste Ausleben aller
Gewaltphantasien der 68er muss man den Frauen und Männern
bescheinigen, deren Bilder schnell in mehr Amtsstuben hingen als das
Bild des Bundespräsidenten. Ulrike Meinhof hatte gegen den Schah
mobilisiert, Holger Meins saß im Ermittlungsausschuss zur Aufklärung
des Todes von Ohnesorg und drehte anschließend einen Lehrfilm über
die Herstellung von Molotow-Cocktails, Andreas Baader saß am 2. Juni
im Gefängnis wegen Motorraddiebstahls, und Gudrun Ensslin sagte in
jener Todesnacht im SDS-Zentrum: »Dies ist die Generation von
Auschwitz, mit denen kann man nicht argumentieren. Wo kriegen wir
Waffen her?«
Es
dauerte noch einige Zeit, bis sie Waffen hatten, aber bereits nach
dem Vietnam-Kongreß im Februar 1968 verwandelten einige SDSler um
Bommi Baumann das dort gesammelte Geld in Bomben (und LSD). »Die
Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen«, hatte Dutschke
formuliert, und die bewaffnete Fraktion der Apo suchte diese
Konfrontation so lange, bis der Obrigkeitsstaat durch neue Gesetze
und neue Waffen besser gerüstet war als vor der Revolte.
Zwei
Jahre lang hatte die Party gedauert, acht Jahre lang wurde
aufgeräumt, spätestens nach dem deutschen Herbst von 1977 herrschte
wieder Ruhe im Land. Die brutalsten Rebellen waren tot, die größten
Dogmatiker waren zu Clowns geschrumpft, die Haschrebellen zogen von
einem Open-Air-Festival zum nächsten oder in die Entziehungskuren,
und das Heer der Ho-Ho-Ho-Tschi-minh-Sprinter saß nun in
Lehrerzimmern und Kindergärten, auf Richterstühlen und in
Anwaltskanzleien, in Redaktionen, in Volkshochschulen und
Universitäten.
Eine
geschlossene Bewegung sind die 68er nie gewesen, und deshalb mussten
sie als politische Bewegung scheitern, gleich mehrfach. Das erste mal
1968, als der revolutionäre Sturz des Kapitalismus scheiterte und in
der Modernisierung desselben endete. Das zweite mal in den
Siebzigern, als der Zukunftsglaube der 68er im Loch der ökologischen
Bedrohung verschwand. Das dritte mal in den Achtzigern, als im
hedonistischen Wirbel der Moden auch dem letzten klar wurde, dass
das, was als politischer Aufstand gegen »den Westen« begonnen
hatte, kulturell zu dessen Vollstrecker geworden war.
Die
Verwestlichung des Alltagslebens in der Bundesrepublik ist der große
(ungewollte) Erfolg der 68er; der Sieg von Jeans, Mini-Rock und Beat
über das dumpfe Deutschtum der frühen Sechziger, die Vermehrung des
multikulturellen jungen Deutschen, der sein Lebensgefühl
zusammenbaut aus den Kulturen junger Engländer, Franzosen und
Amerikaner, weil er sich denen näher fühlte als seinen Eltern.
Erfolgreicher
als alle Re-education-Versuche der Amerikaner sei die 68er-Bewegung
gewesen, bilanzierte ein ehemaliger SDS-Sprecher, und Richard von
Weizsäcker attestierte der »Jugendrevolte«, eine »Vertiefung des
demokratischen Engagements in der Gesellschaft« bewirkt zu haben.
Der radikal vertretene Anspruch, mehr sein zu wollen als
Stimmzettelankreuzer, und die mittlerweile utopisch anmutende
Erfahrung, etwas bewegen zu können, obwohl es immer so ausgesehen
hat, als würde sich nie etwas bewegen, haben die Bürgerinitiative
der Apo zum Vorbild für Hunderte und Tausende großer und kleiner
Bürgerinitiativen gegen Tierversuche, Atomkraftwerke und Hundekot
werden lassen.
Die
Kulturrevolution der 68er ist eine Kette erfolgreicher Niederlagen:
Durch den Aufstand gegen die Erwachsenenwelt und die
Faltenrockordnung verhalfen die, die den Konsumterror mit Wort und
Flamme bekämpften, der Jugendindustrie und ihrem Rauch-, Sauf-,
Mode- und Musikfetischismus zum Durchbruch. Es wird die Rebellen, die
den Kapitalismus stürzen wollten, nicht glücklich machen, dass man
ihr Wirken misst an der Veränderung des Rocksaums und der
Kleiderordnung, aber tatsächlich war die Bewegung der 68er ein
erfolgreiches Innovationsprogramm eines Kapitalismus, der an
Hierarchie, Bürokratie und Spießigkeit zu ersticken drohte.
Ein
wunderbares Sackhüpfen sei »68« gewesen, sagt der große
italienische Linksradikale Adriano Sofri über den zweifelhaften
Sieg, »ich glaube, wir wurden Zweite«.
Die
Jugendlichen der achtziger Jahre hatten keine Lust, das Sackhüpfen
fortzusetzen. Die Punks der Siebziger hatten noch brav ihre
Rebellenrolle erfüllt, die alle Welt seit den Sechzigern von
Heranwachsenden erwartete. Die Aufsässigen der Achtziger fanden es
rebellischer, nicht rebellisch zu sein. Rebellisch war nur, wer die
richtigen Platten hörte und die richtigen Schuhe trug und das
richtige Leben im falschen genoss Der 68er wurde vom Guerrillero zum
Trottel, zum Moralisten im selbstgestrickten Pullover, zum Mahner mit
Bee-Gees-Frisur, zum ewig jungen Spaßverderber.
Nachdem
die Nach-68er fertig waren mit den 68ern, fielen die Vor-68er über
die 68er her, pünktlich zum 25jährigen Jubiläum der Revolte. Die
»antiautoritäre Erziehung« der 68er sei verantwortlich dafür,
dass sich rechte »Mordbrenner als Avantgarde« (Helmut Schmidt)
fühlen können; die »Maßstäbe« hätten sich »im ätzenden
Säurebad der Kritik aufgelöst«, die »moralische Eigenbrötelei
der 68er-Rebellen« habe »die Gemeinschaft auf dem Altar der
Gesellschaft geopfert« (Theo Sommer); diese Generation habe »das
Fehlen einer moralischen Substanz in der deutschen Gesellschaft« zu
verantworten, habe »das Gefühl für Solidarität« geschwächt und
den »moralischen Grundkonsens, auf dem die Entwicklung der
Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beruhte, in Frage gestellt«
(Kurt Sontheimer).
Als wäre
Rudi Dutschke Bundeskanzler gewesen und er selber SDS-Führer, so
macht Helmut Schmidt die »Entwicklung an unseren Schulen und
Hochschulen« für das gegenwärtige »rücksichtslose Spekulantentum
in Unternehmen« verantwortlich, natürlich auch für die »Gewalt im
Fernsehen«.
Für
die vielen Talkshows sollen die 68er auch verantwortlich sein, weil
sie ja soviel diskutierten damals, für die Rauschgifttoten sowieso,
für die Politikverdrossenheit, für Aids, sicher wird man ihnen
irgendwann auch den Zweiten Weltkrieg anhängen, weil es ja die
Eltern der 68er waren, die in den Krieg gezogen sind. So gern der
Alt-68er verantwortlich wäre für alles Bunte, Schöne,
Zivilisatorische, was diese Republik hat, so gern möchte der
68er-Hasser die Rebellion gern verantwortlich machen für alles Böse,
Kaputte und Verfluchte.
Nur
wenige gingen so weit wie der konservative Publizist Ludolf Herrmann
und behaupteten, die Rebellion von 1968 habe mehr Werte zerstört als
das Dritte Reich. Aber Hass auf ''68 ist ein weitverbreitetes Hobby
und ist unter Alt-68ern, die sich ihrer Irrtümer schämen, ebenso
verbreitet wie unter denen, die ihre Verachtung an dem Leben
abarbeiten, das sie nicht geführt haben, als sie jung waren.
Zwischen
»nichts bewirkt« und »alles ruiniert« pendeln die Rückblicke im
Fünf-Jahres-Rhythmus der Gedenktage hin und her, und dass auch 1998
wieder alle auf 1968 starren und herum prügeln werden, liegt daran,
dass die Nach-68er von der Vergeblichkeit aller großen Alternativen
überzeugt waren und sind.
Auch die
Techno-Bewegung, die antrat, »die Gesellschaft mehr zu verändern
als die 68er« (FRONTPAGE), und die eine Zukunft ohne Rassismus, ohne
Sexismus und ohne Gewalt vorleben wollte, ist nicht mehr als eine
Partymaschine, aber auch nicht weniger.
Jede
Generation ist fest davon überzeugt, dass die nachfolgende
Generation verkommener und dümmer ist - und entbehrlich. Man mag
darum Helmut Schmidt nachsehen, wenn er den »25jährigen von 1968«
attestiert, »als 50jährige« hätten sie »keine ausreichende
Führungskraft«. Schon damals, nach dem Tod von Benno Ohnesorg,
hatte ein besorgter West-Berliner in einem Brief an den Asta der FU
das kommen sehen: »Man bekommt Angst vor der Zukunft, weil man sich
fragt, soll das einmal unsere führende Schicht werden? Heute stellen
sie sich gegen Sicherheit und Ordnung mit Eiern und Tomaten, sie
randalieren gegen jeden und alles. Was werden sie erst tun, wenn sie
in den führenden Positionen stehen?«
Dass
die Aktivisten des Aufstandes heute in diesen Höhen nicht zu finden
sind, sei nicht verwunderlich, findet Apo-Forscher Lönnendonker,
schließlich sei es ein Lob, den Wortführern einer antiautoritären
Bewegung vorzuwerfen, sie hätten keine Führungsqualitäten. »In
Italien«, sagt Friederike Hausmann, »sind die Apo-Führer nach oben
gekommen, weil man sie reingelassen hat, da gab es keine
Berufsverbote.« Einige ihrer SDS-Freunde hätten in der deutschen
Wirtschaft Karriere gemacht, aber von denen spricht sie nicht mit
Respekt, sondern mit Ironie.
Distanz
zu halten »zum System« ist für viele 68er wichtig geblieben, also
analysierende Voyeure der Gesellschaft zu sein, sich im Milieu der
enttäuschten großen Hoffnung zu bewegen, wie eine Frau, der die
große Liebe ihres Lebens davongelaufen ist und die sich nun mit
einem Langweiler in einem Reihenhaus durchs Leben schlagen muss
Die
Ansprüche an das Leben, gewachsen in den Jahren, als Geschichte wie
das Produkt der eigenen Selbstverwirklichung schien, sind die
wenigsten wieder losgeworden, die Karrieristen nicht, die Verweigerer
nicht, die Verlierer nicht - sie unterscheiden sich nur dadurch, wie
oft sie die Konfrontation mit diesen Ansprüchen zulassen.
Als
kreative Unternehmer sind nur ein paar aufgefallen, einer ließ
Brillen in Nicaragua fertigen und zum Nulltarif verkaufen, ein
anderer produziert ökologische Putzmittel, doch bekannter sind die
Unternehmerkinder geworden, die ihre Millionen beim Vietcong ließen
oder in die Erforschung der Gesellschaft investierten. Diejenigen,
die sich als Manager in den Kampf gegen das Großkapital stürzten,
trafen in den Unternehmen auf eine Führungselite, die durch die
Nazis darauf getrimmt waren, »nach den Maximen eines Generals«
(CAPITAL) zu handeln: »Pflichterfüllung und letzter Einsatz«; 25
Jahre nach dem Beginn ihres langen Marsches mussten sich die
Apo-Ökonomen vom Chef-Volkswirt der Deutschen Bank bescheinigen
lassen, es sei »eine Katastrophe, dass jetzt im mittleren Management
lauter ehemalige 68er sitzen«, die faul seien und träge und auf
staatliche Konjunkturprogramme hofften.
Als
die Konrad-Adenauer-Stiftung die Karrieren von hundert Apo-Veteranen
durchleuchtete, fand sie keine »spektakulären Karrieren im
Staatsdienst oder in der Wirtschaft«; bei einer Untersuchung der
Lebensläufe deutscher Hochschullehrer fielen 25 ehemalige
SDS-Aktivisten auf - nur Kämpfer »aus der dritten Reihe«, wie
Lönnendonker meint, die aus der ersten Reihe hätten keine Chance
gekriegt.
Eine
neue Elite habe sich »die Wirtschaft« erhofft, als die Studenten
Mitte der sechziger Jahre aufbegehrten, sagt Lönnendonker, also
besser ausgebildete Hochschulabsolventen, praxisorientierter,
weltoffener, selbständiger, deshalb habe die Wirtschaft mit der
Hochschulreform sympathisiert. Denn mit den Ordinarienuniversitäten,
mit der Hierarchiegesellschaft, mit den ständischen Strukturen der
Adenauer-Republik war die beginnende neue industrielle Revolution
nicht zu meistern.
Von
»Reformstau« redeten damals die Gesellschaftskritiker und vom
»Bildungsnotstand«; die Leitartiklerin Ulrike Meinhof forderte
»wirtschaftliches Wachstum« und »mehr Gemeinwohl« und »mehr
Rechtsstaat«; Rudi Dutschke kritisierte fehlende Demokratie in den
Parteien, sie seien »nur noch Plattformen für Karrieristen«; Karl
Jaspers beklagte »das Fortwursteln der Regierung« und die
»Parteienoligarchie« und fragte ängstlich: »Wohin treibt die
Bundesrepublik?«; all das liest sich heute wie ein Zusammenschnitt
aus dem, was die beiden höchsten Kritiker der Republik, Richard von
Weizsäcker und Roman Herzog, in den letzten Jahren an Politikschelte
abgefeuert haben.
In
ihrer innenpolitischen Ratlosigkeit gleicht die heutige Republik
jener Mitte der sechziger Jahre. Der Polizist, sagt der Polizist
Moldenhauer, sei der Seismograph der Gesellschaft, der merke als
erster, wenn etwas schieflaufe im Land. 1966 hat er das gespürt,
dann später mit den Atomkraftgegnern, dann mit den Hausbesetzern,
aber jetzt sei da ein Beben in der Stadt, das ihn unruhig mache.
Er ist
seit 35 Jahren Polizist und ist stolz darauf, nie einen Menschen mit
dem Knüppel geschlagen zu haben, »nur mal einen Besoffenen mit dem
Handschuh ins Gesicht«. Irgendwo zwischen Ordner, Sozialarbeiter und
Pfarrer sieht er seinen Job, ein Polizist brauche »soziales
Empfinden« und müsse »Aggressionen abbauen«; das klingt, als rede
Dutschke. Moldenhauer ist Leitender Polizeidirektor und plant die
Großeinsätze in Berlin, auch jedes Jahr die Schlacht zum 1. Mai.
Das
ist immer wie ein Geländespiel, wie ein Videospiel, mit Scharen von
Kindern hat man es da zu tun, und die werden immer jünger, aber
nicht das ist es, was ihn unruhig macht. Da wachse etwas heran in den
nächsten Jahren, das gefährlicher sei als ''67, und dem ist er
begegnet, als er am Reichstag den Hass in den Gesichtern der
demonstrierenden Bauarbeiter gesehen hat. »40 000 von denen sind
hier arbeitslos, und 35 000 ausländische Arbeiter arbeiten auf den
Baustellen. Das war diesmal schon haarscharf am Rand, das hätte
schon jetzt explodieren können.« Wenn es soweit ist, möchte er
nicht mehr Polizist sein.
Einen
Teil seiner Probleme hat dieses Land trotz ''68, einen Teil wegen
''68. Trotz ''68, weil der Abbau des bürokratischen
Obrigkeitsstaates irgendwo steckenblieb zwischen RAF-Terror und
Staatsschutz und weil die Apo daran scheiterte, Partei zu werden und
die Parteienoligarchie aufzubrechen; wegen ''68, weil sich aus der
Konkursmasse der kritischen Bewegung ein zäher kritischer Brei
entwickelt hat, der sofort und automatisch über alles schwappt, was
neu ist, seien es neue Ideen, Anrufbeantworter, Hollywood-Filme,
Schulcomputer oder Handys.
Die
Deutschen vom Prinzip »Misstrauen« wieder auf das Prinzip
»Hoffnung« umzustimmen, hat Gerhard Schröder übernommen, er
möchte nun in den Gen-, Bio- und sonstigen Technologien vor allem
Chancen und nicht Risiken sehen. Auf dem SPD-Kongreß »Innovationen
für Deutschland« redeten er und andere führende Sozialdemokraten
zwar viel von »Zukunft«, »Modernisierungsstrategie« und »2000«,
aber es klang mehr nach »1960« und »Ludwig Erhard«. Vor allem auf
Wachstum setzt Schröder wieder, an den Unternehmer und den Markt
glaubt er, und auf die USA lässt er nichts kommen. Fast nebenbei
räumte er das ab, was durch ''68 und danach in die SPD gesickert
war, also vor allem die Hoffnung, der Staat könne immer mehr
Schreibtische hinstellen, und die Illusion, der Kapitalismus könne
auf dem Verwaltungswege sozialistisch werden.
Schröder
gehöre zu den Menschen, sagt Friederike Hausmann, bei denen es ihr
noch immer kalt den Rücken runterlaufe. Moderner als Kohl, glatter
als Clinton, blasser als Blair, »der Gegentyp zu einem 68er«. Dem
könne man nicht böse sein, sagt Lönnendonker, »der ist sich treu
geblieben«, der sei schon damals so gewesen. Man brauche einen
Feind, predigt er seinen Studenten, wenn sie bei ihm im Apo-Archiv
sitzen und fragen, was man als Student heute von ''68 lernen könne.
Deren Situation sei so mies, die rechtfertige jede Revolte, »aber
sie ist so mies, da macht keiner eine Revolte, da reißt er lieber
Seiten aus den juristischen Lehrbüchern, damit sie der andere nicht
lesen kann«.
Die Tür
fliegt auf, sein Büronachbar Bernd Rabehl, ein alter Kampfgefährte
von Dutschke und jetzt Archivar dank Lönnendonkers Fürsprache,
schaut herein und fragt: »Was bist du so erregt, was ist los, ich
dachte schon, du telefonierst mit deinem Steuerberater.«
Friederike Hausmann müsste heute noch leben.
Der Polizist Hartmut Moldenhauer war nach seiner Pensionierung ehrenamtlich tätig bei der Polizeihistorischen Sammlung Berlin und äußert sich hier zur Hausbesetzerszene.
Siegward Lönnendonker ist 2022 verstorben.
Aus der KI-Angabe von google hab ich folgende Zusammenfassung zur Auswirkung der 68-er Bewegung kopiert:Die
68er-Revolte, auch bekannt als Studentenbewegung, hatte weitreichende
Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft. Sie führte zu einer
Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, veränderte
Geschlechterrollen und förderte die Teilhabe von Minderheiten am
öffentlichen Leben.
Gesellschaftliche
Veränderungen:
Liberalisierung
und Demokratisierung:
Die
68er-Bewegung trug dazu bei, die Bundesrepublik von einer als
"verkrustet" empfundenen Gesellschaft zu einer modernen,
liberaleren Gesellschaft zu entwickeln.
Veränderte
Geschlechterrollen:
Die
Bewegung trug zur Emanzipation der Frau bei und thematisierte die
Ungleichbehandlung von Männern und Frauen.
Mehr
Teilhabe:
Die
68er-Bewegung forderte mehr Teilhabe für Minderheiten und setzte
sich für eine offene Gesellschaft ein.
Neue
Lebensweisen:
Die
Bewegung förderte neue Lebensstile und eine größere Offenheit für
andere Lebensentwürfe und Werte.
Kritik
an Autoritäten:
Die
68er-Bewegung übte Kritik an traditionellen Autoritäten und
hinterfragte bestehende Strukturen.
Bürgerinitiativen:
Die
Bewegung war ein wichtiger Impulsgeber für die Entstehung von
Bürgerinitiativen und die aktive Teilnahme am politischen
Geschehen.
Weitere
Ergebnisse:
Bildungsreformen:
Die
Studentenproteste führten zu Reformen im Bildungssystem und einer
stärkeren Berücksichtigung der Bedürfnisse der Studierenden.
Kulturwandel:
Die
68er-Bewegung hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Kultur und
trug zur Entstehung einer Gegenkultur und alternativer Milieus bei.
Freie
Rede:
Die
Forderung nach freier Rede wurde zu einem wichtigen politischen
Element und ist bis heute ein wichtiges Gut.
Antiautoritäre
Erziehung:
Die
Bewegung setzte sich für eine antiautoritäre Erziehung ein und
hinterfragte traditionelle Erziehungsmodelle.
Die
68er-Bewegung war also nicht nur eine Protestbewegung, sondern auch
eine Bewegung, die tiefgreifende Veränderungen in der deutschen
Gesellschaft angestoßen hat, die bis heute nachwirken.
Eine umfassende Dokumentation zu den 68-ern gibt es hier von der Bundeszentrale für politische Bildung .
Im nächsten Post werde ich mein 68 darstellen ....