29.06.25

Mein Jahr 1968

 Ich war noch in der 13.Klasse am Martin-Behaim-Gymnasium Nürnberg. Sehr guter Deutsch- und Geschichtsunterricht von Schmidt-Loebe , der uns die aktuelle Literatur und die Nazi-Vergangenheit näher brachte. Auch die Schulplatzmiete bot gute Einblicke in die Kultur der Moderne.

Mein „völkisch-denkender“ Vater ( 67 Jahre und schon länger Frührentner) hatte im Frühjahr 67 einen Schlaganfall erlitten und war halbseitig gelähmt. Die Mutter (42 Jahre, Kontoristin) arbeitete nur noch halbtags und bald gar nicht mehr. Wir waren 1964 mit Unterstützung des Erbgroßonkels nach Lauf in eines der ersten Reihenhäuser nach Lauf-Kotzenhof gezogen. Ich war Fahrschüler und bin mit der Bahn nach Nürnberg in die Schule gefahren. Wir hatten nie ein Auto, aber jetzt sollte eines angeschafft werden, um Erledigungen besser managen zu können. Deshalb hatte ich dann ab Januar einen Führerschein und wir kauften einen R4. Ich verdiente schon vorher in Ferienjobs und durch Nachhilfestunden etwas Geld um z.B. Kleidung kaufen zu können. Jetzt fuhr ich mit dem Auto zur Schule und konnte das Benzin bezahlen.

Von den Ereignissen am 2.Juni 67 ist mir nicht viel in Erinnerung. Es gab auch in Nürnberg Demonstrationen vorwiegend von StudentInnen, die auf den Pressefotos sehr brav aussahen. Ob ich da dabei war, weiß ich nicht mehr. Eher nicht, da ich in den Pfingstferien zwei Wochen vorher gejobbt hatte und zu Hause einiges zu tun war.

Wir hatten zwar einen Fernsehapparat, meine Informationsquellen waren damals eher „Spiegel“ und „Zeit“, die ich mir ab und zu kaufte. So waren mir die Entwicklung desVietnamkriegs zum Flächenbombardement und die weltweiten Proteste dagegen schon lange bewusst. Auch in Nürnberg gab es vor dem Amerikahaus eine größere Demonstration. Ich war 67 bei einer der größten (5000 Teilnehmer) dabei, die vom Plärrer zum Hauptbahnhof lief. Dieses HO-HO-HO- CHI-MINH Gerufe und in Reihe hopsend marschieren war nicht so meins – eher so Kreationen wie: „Bürger lass das Gaffen sein, reih dich lieber bei uns ein“ ….Damals geriet ich hinter die Polizeikette vor dem damaligen Army Hotel, was bei einigen Polizeioffizieren hektische Reaktionen hervorrief (auch eine Anekdote).  


Wesentlicher noch waren die Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung. Auf dem Hauptmarkt fand eine große Kundgebung der Gewerkschaften gegen die Pläne der großen Koalition aus CDU/CSU/SPD statt. Vom 17. bis 21.März schließlich fand in der Meistersingerhalle gegenüber der Schule der Parteitag der SPD statt. Viel Prominenz war vor Ort: Neben den Politgrößen der Partei Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, war auch Günter Grass nach Nürnberg gekommen. Doch die Proteste gegen die geplanten Notstandsgesetze, die die Befugnisse des Staates im Krisenfall ausweiten und die Grundrechte einschränken sollten, trübten den Parteitag, den Willy Brandt als „Parteitag des Umbruchs“ tituliert hatte. Im neu gegründeten „Republikanischen Club“ konnte ich erleben, dass der spätere Minister Emke sich der Diskussion bei Bratwurst und Kartoffelsalat der Diskussion stellte. (Im Nachhinein hier ein jetzt gefundener Spiegelartikel zum damaligen Zustand der SPD)

Im Jahresbericht der Nürnberger SPD heißt es später: „Es war schade, dass sich während dieser feierlichen Eröffnung vor der Meistersingerhalle tumultartige Szenen abspielten. Mit Omnibussen waren Demonstranten (…) nach Nürnberger gekarrt worden. (…) Da ein Eindringen in den Saal nicht möglich war, hielt man sich an den Dekorationen schadlos. Fahnenmasten wurden herausgerissen, SPD- und Länderfahnen, sowie Transparente verbrannt. Das Ergebnis war, einige Verhaftungen und neun verletzte Polizeibeamte.“ Herbert Wehner, so erzählt man sich bis heute, habe von einem wütenden Demonstranten sogar eine Ohrfeige bekommen. Ich befand mich einige Meter in der schiebenden Menge mit einigen Mitschülern eingekeilt entfernt. Und kann nur bezeugen, dass Wehner im Gedränge seine Brille verloren hatte. Von den Sachbeschädigungen in der Umgebung hatte ich nichts mitbekommen. Jedenfalls war ich froh, dass ich mich aus dem Pulk herauswinden konnte.  


Am Montag darauf machte sich ein Teil der Klasse eigenmächtig auf, um einfach mal die Schule zu verlassen und rüber zum Veranstaltungsort zu gehen (Protest oder Neugier ?) . Es gab ein kleines Nachspiel, da der Scharfmacher Studiendirektor Springer uns massiv bestrafen wollte. Die Vermittlung des Vertrauenslehrers hatte aber Erfolg und wir waren entlastet. Dieser Springer zeigte sich bei polizeilichen Ermittlungen durchaus zur aktiven Zusammenarbeit mitHerold (damals Polizeipräsident) bereit. In einer interessanten Ausstellung 2018 konnte ich noch einige Dokumente sehen, die ihn als sehr autoritär darstellten …

Wir waren aber bald im Zentrum der Unruhen. Auszug aus dem Jahresbericht der Schule: Die Klasse 13c unternahm vom 30.März bis 5.April eine Studienfahrt nach Berlin. Rundfahrten und Spaziergänge führten die Teilnehmer durch das wieder aufgebaute West-Berlin, insbesondere durch das Zoo- und Hansaviertel. Besucht wurden auch Museen in Dahlem, die Gedenkstätte in Plötzensee und das Schloss Charlottenburg. Interessante Eindrücke wurden auch bei einem Besuch des Ostsektors gewonnen. Ein Kabarettbesuch wurde auch organisiert....

An die bedrohlichen Grenzkontrollen auf der Transitstrecke (mach ja nicht das Sächsisch nach...) und im Bahnhof Friedrichstrasse kann ich mich noch erinnern. Auch dass ich da drüben erleben musste wie Zivile einen ungefähr Gleichaltrigen mit Parka bekleidet aus einem Café abführten. (Der sah aus wie wir...) Es klingt heute noch wie ein Hohn, wenn der brave Bürger den Protestlern mit Hass entgegenschleuderte: „Dann geh´doch rüber !“ …. Für mich war damals dieser „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ des Prager Frühlings sympathisch, den ich in der Zeit verfolgte.

Wir kamen auch am Büro des SDS vorbei. Am Gehsteig davor wurde Rudi Dutschke eine Woche später niedergeschossen.... Plötzensee war nachhaltig … Es gab Infostände bei der Uni mit verschiedenen Materialien die ich mir mitnahm … Unter anderem einen Button mit „Nie wieder Jungfrau“ ,den ich mir als Jungmann mit Sarkasmus anheftete …

 Am 4.4. wurde Martin Luther King in den USA ermordet. Habe ich in Berlin nicht mitbekommen ...

Wie erwähnt wurde dann am 11. April Rudi Dutschke niedergestreckt – und es gab überall Proteste gegen den Springer Verlag , besonders die BILD . Es war Ostern und auch in Nürnberg gab es rege Gespräche mit Passanten über die Ereignisse. Ich fand es sehr interessant, dass man mit vielen (älteren) Leuten auch diskutieren konnte … Mit dem Jargon von Dutschke konnte ich nicht viel anfangen. Was empörend war, ist die Tatsache, dass die Springer Presse nicht nur in Berlin mit Hassparolen die Bevölkerung gegen die Protestierer aufstachelte. An diesem Tag in der Stadt konnte man gut mitbekommen wie Meinungen manipuliert werden können. Mal anders einrichten konnten wir es nur bei wenigen...


 Die Entwicklung in der Tschechoslowakei sah währenddessen gut aus. Einige Reformen waren am Laufen, was ganz nach meinem Geschmack war:


Aufhebung der Zensur:

    Die staatliche Kontrolle über Medien und Kultur wurde aufgehoben, was zu einer Welle der Meinungsfreiheit und einer lebhaften öffentlichen Debatte führte.

  • Bürgerliche Freiheitsrechte:

    Rede-, Versammlungs- und Reisefreiheit wurden gewährt, was den Bürgern mehr Möglichkeiten zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben eröffnete.

  • Stärkung des Parlaments:

    Das Parlament erhielt mehr Befugnisse und wurde zu einem wichtigeren Akteur in der politischen Landschaft.

  • Wirtschaftsreformen:

    Es wurden Pläne zur Dezentralisierung der Wirtschaft und zur Gewährung von mehr Autonomie für Betriebe entwickelt, um die Effizienz zu steigern und den Einfluss der Partei zu reduzieren.

Im Schulbetrieb war das Abitur gelaufen. In Mathe / Physik gut – in Deutsch hab ich mich mit einer Interpretation vertan und bekam wg. Satzzeichenschwäche noch eine Note schlechter. Ich sollte noch in eine mündliche Nachprüfung. Ich hatte nun Zeit im Keller unseres Reihenhauses ein Fenster einzubauen um mir dort ein eigenes Reich einzurichten. Ich bekam dann aber eine eitrige Mandelentzündung und versäumte die Nachprüfung. Bei der Ausgabe der Zeugnisse war ich nicht dabei , sondern stand mit Leo Kraus, dem man das Zeugnis verweigerte (durchgefallen?) vor der Turnhalle in der die feierliche Übergabe stattfand. Im Rektorat gab ich dann mein Attest der Erkrankung bei Beckstein (Vater des kurzzeitigen Ministerpräsidenten) ab und erhielt von der Sekretärin das Zeugnis.

Mit meinem Freund Jürgen bin ich dann mit dem R4 nach Südfrankreich gefahren – über die Alpen auf der Route Napoleon. Ein Erlebnis! Erstmals Gletscher gesehen und ein Meer erlebt. Am Strand gezeltet und an der Küste entlang gefahren … Heute ist dort alles verbaut ….

Am 21. August schließlich fuhr ich mit einem Freund nach Erlangen zur Einschreibung für die Fächer Mathematik, Physik und Informatik und im Autoradio kam die Nachricht,dass in Prag russische Panzer auffahren …

Die Bevölkerung in Prag und der gesamten Tschechoslowakei leistete anfangs noch passiven Widerstand gegen die Invasion von Truppen aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien . Trotz der militärischen Übermacht der Invasoren, setzten die Menschen kreative und friedliche Mittel des Widerstands ein, um die Besetzung zu protestieren und die Reformer zu unterstützen: Menschen stellten sich den Panzern entgegen, bauten Barrikaden und versuchten, mit den Soldaten zu diskutieren oder sie zu ignorieren. Straßenschilder wurden übermalt oder abmontiert, um die Soldaten zu verwirren. Tschechoslowakische Eisenbahner leiteten Nachschubzüge für die Rote Armee auf Abstellgleise.  Tausende zumeist selbstgezeichnete oder selbstgedruckte Plakate, die die Besatzer verspotteten und zum passiven Widerstand aufriefen, wurden vorwiegend in Prag und Bratislava, aber auch in anderen Städten verteilt und an Häuserwände und Schaufenster geklebt. Auch der Rundfunk spielte eine große Rolle. Der Hauptsender war besetzt, aber eine mobile Sendestation wurde eingesetzt, um die Bevölkerung zu informieren. Auch der Österreichische Rundfunk spielte dabei eine große Rolle, indem er die Tschechoslowaken via Kurzwelle-Sendeanlagen in Österreich informierte. Daneben spielten auch kleinere Piratensender eine wichtige Rolle, die von den sowjetischen Besatzungstruppen ebenfalls nicht völlig ausgeschaltet werden konnten.

Die Tage danach - als die Regierung nach Moskau zitiert wurde, lassen sich in dieser Kurzübersicht mit Originalberichten gut verfolgen. Ich erinnere mich noch an das Bild als Alexander Dubcek nach seinem Rückflug aus Moskau die Gangway mit Tränen in den Augen hinabstieg …. Der Prager Frühling 68 war beendet. Erst 89 gab es wieder eine Reform mit der Samtenen Revolution ...

Der Anfang des Studiums war frustrierend. Im Matheseminar bekamen wir Hausaufgaben. Einige meiner Schulkameraden waren auch im Studiengang dabei. Wir setzten uns zusammen, aber niemand hatte eine Lösung. Ein Fünftsemester half uns dann mal … In der überfüllten Physikvorlesung spulte der Professor eine Formel nach der anderen herunter. Das war wörtlich zu nehmen, denn eine Hilfskraft spulte die Folie auf dem Overheadprojektor mit dem hastig hingeworfenen Wirrwar immer weiter... Glücklicherweise gab es nebenan ein kleines Café des Studentenwerks und dort waren viele Leute aus der Philosophischen Fakultät anzutreffen. Dort drüben war die Stimmung anders: Diskussionen, Teach-ins und Infotische.


 
Als ich mir dann einige Leute aus der Mathematik betrachtete, man würde heute vielleicht Nerds sagen, stand mein Entschluss fest: So wollte ich nicht werden – und außerdem kam mir das alles so schwierig vor. Ich sah mich dann mal in der neu erbauten Pädagogischen Hochschulein Nürnberg am Dutzendteich um und war sehr positiv eingenommen. Das Ganze wirkte irgendwie überschaubar und die Leute beim ASTA waren mir recht sympathisch. Von meinen poitiven Erfahrungen als Nachhilfelehrer her, hatte ich emotional sowieso einen positiven Einstieg . Also sattelte ich um auf Volksschullehrer – später Lehrkraft an Grund- und Hauptschulen ….