15.06.25

Die 68-er

Bei einer Recherche zu meinem Abiturjahr 1968 bin ich auf einen alten Spiegelartikel gestoßen, der im Jahr 1967 erschien. Es geht einesteils um den Tod von Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967 und die Auswirkungen auf die 68-er Revolte. Andernteils auch um die Auswirkungen 30 Jahre danach. 

DIE ACHTUNDSECHZIGER Vollstrecker des Weltgewissens

Erst der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 machte aus einer lustigen Revolte den Aufstand der 68er, der Deutschland veränderte. Die Erfolge und Misserfolge dieser Kulturrevolution beleben und lähmen die Republik bis heute.

Von Cordt Schnibben

01.06.1997, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 23/1997

Ob sie das elegante Cape und die Ohrringe an diesem Tag getragen hat, weil sie aussehen wollte wie eine Opernbesucherin oder weil sie damals immer so angezogen war, weiß Friederike Hausmann nicht mehr.

Ob er bei diesem Einsatz vor der Deutschen Oper in Berlin eine Walther P 38 oder eine PPK 7,65 mm umgeschnallt hatte, weiß Hartmut Moldenhauer nicht mehr.

Wann genau am Abend er vor der Oper eintraf, weiß Siegward Lönnendonker nicht mehr. Aber dass zu diesem Zeitpunkt schon die Nachricht die Runde machte, ein Polizist sei getötet worden, das weiß Lönnendonker genau.

Dass ihre Hände voller Blut waren, nachdem sie den Kopf des ohnmächtigen Studenten auf ihre Handtasche gebettet hatte, hat Friederike Hausmann nicht vergessen, schon deshalb nicht, weil sie ihre roten Hände immer wieder gesehen hat in ihren Träumen. Irgendwo abgewischt hat sie ihre Hände an diesem Abend, und dann hat sie weiter »Räuber und Gendarm« gespielt, wie sie heute sagt, ist mit anderen Studenten durch die Straßen rund um den Ku''damm gezogen, auf der Suche nach Polizisten, vor denen man weglaufen konnte.

Erst gegen Mitternacht war sie dann wieder zu Hause, in der Wohnung, in der sie zusammen mit fünf Studenten lebte, und da muss sie dann wohl noch den weißen Seidendamast aus dem Schrank geholt haben, den sie sich aus Ägypten mitgebracht hatte, und sie veranstaltete eine kleine Modenschau, guckt mal, was das für ein tolles Kleid wird.

Erst am nächsten Morgen dämmerte ihr, was für einen Abend sie erlebt hatte: dass dieser Junge im roten Hemd gestorben war, dass sie den ersten Toten der Studentenbewegung in den Händen gehalten hatte, dass an dem SDS-Gerede von den »Faschisten«, die überall Jagd machten auf die Studenten, wohl doch was dran sein musste und dass man sich nun wehren müsse gegen »ein neues ''33« und dass es nun wohl vorbei sei mit dem großen Studentenspaß, der in den Morgenzeitungen nur noch »roter Terror« genannt wurde.

Für den jungen Polizisten Moldenhauer, der den ganzen Abend mit seiner Einheit als letzte Sicherung vor dem Haupteingang der Oper darüber gewacht hatte, dass Bundespräsident Heinrich Lübke und dessen Frau Wilhelmine und dem persischen Schah und dessen Frau Farah Diba nichts passiert, war die Nachricht vom Tod eines Studenten namens Benno Ohnesorg wie ein Einsatzbefehl. Das würde Ärger geben, das war ihm sofort klar, und als der Bürgermeister dann auch noch für die nächsten Tage ein generelles Demonstrationsverbot verhängte, war er auf das Schlimmste gefasst. Der Hass allerdings, der ihm fortan entgegenschlug, übertraf seine Befürchtungen.

Lönnendonker, Student der Chemie und der Soziologie und der Mathematik, begriff schon in der Unglücksnacht, dass da etwas Neues in Bewegung kam, weil im Republikanischen Club und im SDS-Zentrum die verstörten Demonstranten zusammenströmten und plötzlich nach Waffen verlangten und die Kommilitonin Gudrun Ensslin vorschlug, eine Polizeikaserne zu überfallen.

Mit jedem Jahr, das seither verging, wurde klarer, was an diesem 2. Juni 1967 passiert war, und jetzt, 30 Jahre danach, blicken die Übersetzerin Hausmann, der Wissenschaftler Lönnendonker und der Leitende Polizeidirektor Moldenhauer auf einen Tag zurück, der so etwas ist wie die Klimascheide zwischen zwei Gesellschaften.

Bis dahin war die Bundesrepublik Deutschland eine Art wilhelminischer Obrigkeitsstaat, in dem sich der Untertan schon dann rechtswidrig verhielt, wenn er sich öffentlich über einen Polizisten empörte, der sich rechtswidrig verhielt; ein Land, in dem das Gitarrespielen an einem Brunnen ausreichte, um einen Polizeiaufmarsch auszulösen, und in dem junge Polizisten wie Moldenhauer gedrillt wurden, als sollten sie in den Bürgerkrieg ziehen.

Studenten wie Lönnendonker machten sich Anfang der sechziger Jahre schon dadurch verdächtig, dass sie Marx lasen, etwas, von dem der normale Student annahm, dass es sowieso verboten sei. Zwei Drittel der Studenten bezeichneten sich als apolitisch; die Hochschullehrer herrschten in ihren Talaren wie Fürsten über die Fakultäten, und wenn Studenten doch mal aufmuckten, konnte einem ehrwürdigen Professor schon mal herausrutschen: »Sie gehören alle ins Konzentrationslager.«

Politische Betätigung an den Hochschulen war nicht üblich, es sei denn, es wurde des 17. Juni gedacht; Diskussionsforen gegen die Südostasienpolitik der USA wurden verboten; und gegen den Vietnamkrieg demonstrierende Studenten mussten sich von Willy Brandt davor warnen lassen, »dass wir Deutsche uns in der Weltpolitik als Lehrmeister aufspielen«. Für die Boulevardpresse waren Demonstranten sowieso »Rowdys« und »Krawallmacher«, für die FAZ galten die Straßenumzüge Gleichgesinnter als »das dümmste und vergeblichste Mittel politischer Betätigung«.

Jede Menge Gebote und Verbote hatte die deutsche Sofakissendiktatur ihren jungen Bürgern zu bieten - Sitz gerade, geh zum Friseur, mach die Negermusik leiser, geh zur Tanzstunde, wasch den Wagen, und wenn Friederike Hausmann zusammen mit ihrem Freund in ein Hotelzimmer wollte, wies man ihr die Tür, und wenn sie im Haus ihrer Eltern übernachteten, hätten die Nachbarn Anzeige erstatten können wegen Kuppelei.

Um Distanz zu bekommen zu diesem Leben, das nicht ihr Leben war, sondern das Leben ihrer Eltern, zogen in den sechziger Jahren immer mehr Westdeutsche in die großen verlassenen Wohnungen West-Berlins und begannen, ein neues Zusammenleben auszuprobieren. Sie saßen in

Klubs herum, sie lasen Sartre und Camus, sie verschlangen Marcuse, Marx und Freud,sie hörten Dylan und die Doors, sie tranken Rotwein und Cola-Rum, sie schluckten Captagon und Rosimon Neu, sie empörten sich über das schlechte Mensaessen und Bomben auf Hanoi, sie stürzten den Asta-Vorsitzenden Eberhard Diepgen, der Studenten in einer »freiwilligen Polizeireserve für Krisenzeiten« organisieren wollte, sie sprengten Vorlesungen in Polizeiuniformen und gingen dafür ins Gefängnis, sie bejubelten The Who und den Gitarristen Pete Townshend, weil für ihn der Konflikt zwischen den Generationen »der Beginn einer großen gesellschaftlichen Revolution« war, sie hatten ihren Spaß und brachten alle Autoritäten zum Tanzen.

Wenn Friederike Hausmann, erschöpft vom Studium der Altphilologie und vom Rebellenleben, um vier Uhr morgens mit dem Nachtbus nach Hause fuhr, blickte sie voller Verachtung und Mitleid auf die Menschen, die zur Arbeit fuhren. So zu leben, als »Spießer«, als »Konsumtrottel«, als »Deutscher«, schien ihr unmöglich; sie lebte in dem Gefühl, ehrlicher zu leben, sinnvoller und moralischer, und zu denen zu gehören, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun, wie ein Surfer, der auf einer gewaltigen Welle vor Glück brüllend dem Strand entgegenfliegt.

Auch der Polizist Moldenhauer spürte die Kraft dieser Bewegung, die ihn ratlos machte und kraftlos und so neugierig, dass er nach Dienstschluss in Teach-ins in der Technischen Universität schlich. Dass das Hochschulgesetz reformiert werden musste, leuchtete ihm schließlich ein, dass der Vietnamkrieg beendet werden sollte, auch, aber dass dieser Dutschke als gefährlicher Aufhetzer galt, war genauso klar. Im einzelnen mochten die Studenten recht haben, im ganzen schienen sie ihm größenwahnsinnig.

Das Zentrum der Bewegung, die Führung des Berliner SDS, tagte gelegentlich in Lönnendonkers Zimmer, wenn dieser spätabends in seine Wohngemeinschaft kam. Den Schah aus Persien wollten die SDSler eigentlich ungeschoren davonkommen lassen, weil man gerade damit beschäftigt war, den US-Imperialismus und seine Verbrechen in Vietnam zu bekämpfen.

Aber die Journalistin Ulrike Meinhof hatte in einem offenen Brief an die Kaisergattin Farah Diba Hunger, Folter, Mord und Rauschgiftsucht in Persien angeprangert; auch die persischen Exilstudenten hatten Stimmung gemacht gegen den verschwendungssüchtigen Diktator; Rainer Langhans, Fritz Teufel und andere Kommunarden mobilisierten, und deshalb rief schließlich auch der SDS zu jener Demonstration, auf der das alte wilhelminische Deutschland und das neue moderne Deutschland aufeinander krachten.

Was sich jahrelang an Spannungen aufgebaut hatte im Wirtschaftswunderdeutschland, entlud sich an diesem heißen Juniabend gewaltsam. Auf alles, was die Jugendlichen hassten an der Welt, konnten sie vor der Oper Parolen und Farbeier schleudern - auf den Pomp lächerlicher Autoritäten, auf die Gewalt der Staatsdiener, auf die Armut in der Dritten Welt, auf die dunkle Vergangenheit der deutschen Elite. Und auf alles, was die Staatsdiener hassten an diesen respektlosen Untertanen, konnten sie ihre Gummiknüppel niedersausen lassen - auf ihre dämlichen Sprechchöre, auf ihre ungewaschenen Haare, auf ihr Geschwätz, auf ihre überheblichen Blicke, auf ihre Schlaumeier-Fressen.

»Heute gibt''s Dresche«, hatten Polizisten schon versprochen, als der Schah noch gar nicht zu sehen war, und einem Festgenommenen hatten die Polizisten zugerufen: »Wenn du noch ein Wort sagst, schlag'' ich dich tot, du Schwein.« Vorm Betreten der Oper hatte Berlins empörter Bürgermeister Heinrich Albertz seinem Polizeipräsidenten zugezischt: »Wenn ich herauskomme, ist alles sauber«, und so stürmten seine Männer, kaum erklangen die ersten Takte von Mozarts »Zauberflöte«, auf die »Störer« los.

An die große Panik kann sich Friederike Hausmann erinnern, an das verzweifelte Suchen nach einem Ausweg aus der schreienden, blutenden, trampelnden Menschenmenge, und diesen fand sie durch eine Gasse von prügelnden Polizisten in einem Hinterhof.

Dort standen sich dann plötzlich im Dämmerlicht gegenüber der Student Benno Ohnesorg und der Kripobeamte Karl-Heinz Kurras, zufällig, und doch so logisch, als hätte sie jemand dorthin befohlen. Der eine, der Germanistik und Romanistik studierte, wollte sich zum ersten mal selbst ein Bild machen von dem Treiben der rebellierenden Studenten; der andere, der als ziviler Greifer »Rädelsführer« festnehmen sollte, fürchtete, »dass die Demokratie bei dieser weichen Welle zugrunde gehen« könne. Beim Aufeinandertreffen des einen Deutschen mit dem so ganz anderen Deutschen löste sich auf seltsame Weise ein Schuss (siehe Seite 114).

Der Tod des Studenten, über den seine Professoren sagten, er sei ein zurückhaltender, höflicher, neugieriger und gewissenhafter Student gewesen, machte aus einer antiautoritären Revolte in West-Berlin die Protestbewegung der 68er, die das Land umkrempelte und bis heute prägt. Für die Zehntausende, die sich in vielen Städten zu Trauermärschen zusammenfanden, war dieser Tote der Beweis dafür, dass die westdeutsche »Demokratie« nur auf dem Papier des Grundgesetzes existierte und dass »die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen« erkämpft werden müsse.

65 Prozent der Studenten gaben später an, in den Wochen nach dem Tod seien sie politisch geworden. »Ich bin politisiert worden«, sagten sich die Leute damals, und das war eine Art Eintrittserklärung in eine damals weltumspannende Sekte, deren Bekenntnis war: Alles ist politisch, die Gesellschaft sowieso, die Polizei, die Hochschule, das Theater, die Literatur, die Musik, die Familie, der Orgasmus, und darum müsse man alles politisch sehen und natürlich alles befreien. »Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen«, formulierte Rudi Dutschke das Programm dieser Revolte, die kein Programm hatte.

»Es handelt sich nicht um einzelne Verrückte«, hieß es in einem Analysepapier eines Berliner Senatsdirektors, »es sind die fleißigsten und tüchtigsten Studenten, es ist die allgemeine Grundstimmung unter jungen Leuten. Wenn nicht auf breiter Front das Nötige und Geeignete geschieht, wird Berlin sehr schnell eine existentielle Krise erleben können.«

Man sei durch das Verhalten der Staatsmacht mehr oder minder gezwungen worden, revolutionär zu werden, so beschreibt Friederike Hausmann die Entwicklung der zunächst vorpolitischen Bewegung zum politischen Aufstand.

Während einer der vielen Vollversammlungen in der FU stand ein Student der Germanistik auf und hielt eine lange flammende Rede, die so etwas wie das Manifest der 68er wurde und die mit den Worten endete: »Wir haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, dass wir gegen die Universitätsverfassung reden können, soviel und solange wir wollen, ohne dass sich ein Aktendeckel hebt, aber dass wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, dass wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir es endlich gefressen, dass wir gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt - dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen.«

Der Name des Studenten: Peter Schneider, später bekannt geworden als Schriftsteller, Essayist und Kritiker der 68er.

Zehntausende Schüler, Lehrlinge und Studenten in Bremen, Mönchengladbach und sonstwo verfielen in den folgenden Monaten und Jahren dem Rausch, den »Kampf gegen das Establishment« aufzunehmen, überall »Manipulation« zu wittern und mit ätzender Kritik das Weltbild der Autoritäten lächerlich zu machen.

»Wir wussten alles«, sagt Lönnendonker, »wir konnten erklären, wie der Kapitalismus funktioniert und warum er überflüssig war, wir hatten den Marxismus und Freuds Psychoanalyse, und wir hatten auf alles eine Antwort.« Wie Vollstrecker des Weltgewissens fühlten sich die 68er, wie Partisanen einer neuen Weltordnung, die von Frieden, Liebe und Gleichheit zusammengehalten wird. Wo sie hinblickten, ob nach San Francisco, Havanna, Paris oder Tokio, entdeckten sie Mitkämpfer, und wo immer sie hinkamen, konnten sie ihren Schlafsack ausrollen und eine selbstgedrehte Zigarette schnorren.

Sie konnten gleichzeitig narzisstisch und solidarisch sein, weil Arbeitslosigkeit, Drogentod und Aids noch weit weg waren und weil Atomstrahlen, Umweltgifte und das Ozonloch noch keinen ängstigten. Sie lebten in einer heilen Welt und in der Gewissheit, den Sex, die Schule, das Wohnen, die Musik und die Demokratie neu erfinden zu dürfen; und nur eine Macht konnte sie daran hindern, ihren Menschenversuch zum glücklichen Ende zu bringen: das Kapital.

Mit ihren Demonstrationen, Besetzungen, Love-ins und Go-ins setzten diese Träumer des Absoluten der Gesellschaft so zu, dass der Berliner Justizsenator vorschlug, verhaftete Demonstranten generell auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Vermieter in Berlin begannen, bevorzugt an linke Wohngemeinschaften zu vermieten, damit die Wohnungen nach der Revolution nicht mehr beschlagnahmt zu werden brauchten.

Bei Moldenhauer ließ der allgemeine Ungehorsam die Haare über seinen Uniformkragen wachsen und auf der Oberlippe einen Bart sprießen, sehr zum Missfallen seiner Vorgesetzten und Kollegen. Er war in vorderster Reihe im Studentenkrieg eingesetzt, er gehörte zur »Gruppe 47«, einem Diskussionskommando aus 47 Polizisten, das 1969 nach zwei Jahren voller Straßenschlachten, Knüppelfesten und Wasserwerferorgien gebildet worden war, um die Fronten aufzulockern.

Der Staat war nun hochgerüstet, die Staatsdiener liefen voll verpanzert hinter den Störern her. Moldenhauer spürte bei seinen Diskussionseinsätzen, wie sich die Studenten zu trennen begannen in solche, mit denen man reden konnte, und solche, die in ihm, egal was er sagte, den Handlanger eines Staatsapparates sahen, den es zu zerschlagen galt.

Dass die Bundesrepublik wirklich im Bürgerkrieg versinken könnte, fürchtete er nie, aber dass bestimmte Gruppen der Außerparlamentarischen Opposition (Apo) bereits in dieser Wahnvorstellung lebten, merkte er schon. Spätestens als in Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze hochgingen und einer der Täter, Andreas Baader, mit Ulrike Meinhofs Hilfe aus dem Gefängnis befreit wurde, war klar, dass die zweijährige Straßenparty zu Ende war. Die Apo begann, sich selbst zu zerstören.

Die wenigsten griffen zur Kalaschnikow, viel mehr gingen in realistischer Einschätzung der Schwäche studentischer Kampfverbände auf die Suche nach dem revolutionären Proletariat. Die einen glaubten, es in der 1968 neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zu finden, die anderen gründeten die Kommunistische Partei Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO), wieder andere die Proletarische Linke/Parteiinitiative (PL/PI) oder den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW); etwa hunderttausend 68er machten sich auf den Marsch in die SPD.

392 sogenannte linksextremistische Organisationen zählte das Innenministerium 1971. Bis 1976 wurden fast ein halbe Million Lehrer und andere Beamtenanwärter auf ihre Verfassungstreue überprüft - so versuchte der Staat den von Rudi Dutschke angekündigten »Marsch durch die Institutionen« aufzuhalten. Friederike Hausmann durfte nicht Lehrerin werden, weil sie Mitglied in der »Liga gegen den Imperialismus« war und das Nummernschild ihres Autos ein paarmal in der Nähe verbotener Demonstrationen notiert worden war. Sie zog 1977 als Übersetzerin nach Italien und kehrte erst 1984 nach München zurück.

Ihre Jahre in ihrer antiimperialistischen Sekte sind ihr um so unheimlicher, je weiter sie zurückliegen. Der Realitätsverlust, die Ergebenheit und die Kritiklosigkeit machen ihr angst; über das Leben, das sie führte - nach drei Stunden Schlaf um vier Uhr aufstehen, um Flugblätter an schimpfende Arbeiter zu verteilen -, kann sie heutzutage immerhin lächeln.

Warum eine mächtige, lustvolle Bewegung, die alle Autoritäten in Frage stellte, zerfiel in autoritätsgläubige, schlechtgelaunte Kleingartenvereine, versteht sie sowenig wie Lönnendonker. Er musste, zum Zwecke der Arbeiteragitation, ein halbes Jahr in einem Stahlbetrieb arbeiten, zog es aber dann doch vor, aus der PL/PI auszuscheiden, sich fortan und bis heute mit dem Schicksal seiner Kampfgenossen zu beschäftigen und an der FU das Archiv »Apo und soziale Bewegungen« aufzubauen.

Das Ende der Apo, so sieht es ihr gründlichster Erforscher, kam, als sie anfing, die Antworten zu geben auf die Fragen, die sie aufgeworfen hatte. Wie können Kindergärten kindgemäßer sein, wie können die Schulen lebensnäher, wie können die Hochschulen berufsorientierter und demokratischer werden - darauf Antworten zu geben war noch relativ einfach. Wie kann die Demokratie weniger parteienbeherrscht sein, wie kann der Wohlstand gerechter verteilt, wie kann die Wirtschaft krisenfester, wie kann die Gesellschaft durchlässiger werden - darauf fiel den Chefideologen der Apo nichts ein, nur immer: Sozialismus. Und wie der auszusehen habe und wie man ihn erreichen könnte, darüber stritten sich die kommunistischen Gruppen so lange, bis von ihnen nichts mehr übrig war und schließlich auch der Sozialismus von der Erde verschwunden war.

Die simpelste Antwort auf alle Fragen und das radikalste Ausleben aller Gewaltphantasien der 68er muss man den Frauen und Männern bescheinigen, deren Bilder schnell in mehr Amtsstuben hingen als das Bild des Bundespräsidenten. Ulrike Meinhof hatte gegen den Schah mobilisiert, Holger Meins saß im Ermittlungsausschuss zur Aufklärung des Todes von Ohnesorg und drehte anschließend einen Lehrfilm über die Herstellung von Molotow-Cocktails, Andreas Baader saß am 2. Juni im Gefängnis wegen Motorraddiebstahls, und Gudrun Ensslin sagte in jener Todesnacht im SDS-Zentrum: »Dies ist die Generation von Auschwitz, mit denen kann man nicht argumentieren. Wo kriegen wir Waffen her?«

Es dauerte noch einige Zeit, bis sie Waffen hatten, aber bereits nach dem Vietnam-Kongreß im Februar 1968 verwandelten einige SDSler um Bommi Baumann das dort gesammelte Geld in Bomben (und LSD). »Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen«, hatte Dutschke formuliert, und die bewaffnete Fraktion der Apo suchte diese Konfrontation so lange, bis der Obrigkeitsstaat durch neue Gesetze und neue Waffen besser gerüstet war als vor der Revolte.

Zwei Jahre lang hatte die Party gedauert, acht Jahre lang wurde aufgeräumt, spätestens nach dem deutschen Herbst von 1977 herrschte wieder Ruhe im Land. Die brutalsten Rebellen waren tot, die größten Dogmatiker waren zu Clowns geschrumpft, die Haschrebellen zogen von einem Open-Air-Festival zum nächsten oder in die Entziehungskuren, und das Heer der Ho-Ho-Ho-Tschi-minh-Sprinter saß nun in Lehrerzimmern und Kindergärten, auf Richterstühlen und in Anwaltskanzleien, in Redaktionen, in Volkshochschulen und Universitäten.

Eine geschlossene Bewegung sind die 68er nie gewesen, und deshalb mussten sie als politische Bewegung scheitern, gleich mehrfach. Das erste mal 1968, als der revolutionäre Sturz des Kapitalismus scheiterte und in der Modernisierung desselben endete. Das zweite mal in den Siebzigern, als der Zukunftsglaube der 68er im Loch der ökologischen Bedrohung verschwand. Das dritte mal in den Achtzigern, als im hedonistischen Wirbel der Moden auch dem letzten klar wurde, dass das, was als politischer Aufstand gegen »den Westen« begonnen hatte, kulturell zu dessen Vollstrecker geworden war.

Die Verwestlichung des Alltagslebens in der Bundesrepublik ist der große (ungewollte) Erfolg der 68er; der Sieg von Jeans, Mini-Rock und Beat über das dumpfe Deutschtum der frühen Sechziger, die Vermehrung des multikulturellen jungen Deutschen, der sein Lebensgefühl zusammenbaut aus den Kulturen junger Engländer, Franzosen und Amerikaner, weil er sich denen näher fühlte als seinen Eltern.

Erfolgreicher als alle Re-education-Versuche der Amerikaner sei die 68er-Bewegung gewesen, bilanzierte ein ehemaliger SDS-Sprecher, und Richard von Weizsäcker attestierte der »Jugendrevolte«, eine »Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft« bewirkt zu haben. Der radikal vertretene Anspruch, mehr sein zu wollen als Stimmzettelankreuzer, und die mittlerweile utopisch anmutende Erfahrung, etwas bewegen zu können, obwohl es immer so ausgesehen hat, als würde sich nie etwas bewegen, haben die Bürgerinitiative der Apo zum Vorbild für Hunderte und Tausende großer und kleiner Bürgerinitiativen gegen Tierversuche, Atomkraftwerke und Hundekot werden lassen.

Die Kulturrevolution der 68er ist eine Kette erfolgreicher Niederlagen: Durch den Aufstand gegen die Erwachsenenwelt und die Faltenrockordnung verhalfen die, die den Konsumterror mit Wort und Flamme bekämpften, der Jugendindustrie und ihrem Rauch-, Sauf-, Mode- und Musikfetischismus zum Durchbruch. Es wird die Rebellen, die den Kapitalismus stürzen wollten, nicht glücklich machen, dass man ihr Wirken misst an der Veränderung des Rocksaums und der Kleiderordnung, aber tatsächlich war die Bewegung der 68er ein erfolgreiches Innovationsprogramm eines Kapitalismus, der an Hierarchie, Bürokratie und Spießigkeit zu ersticken drohte.

Ein wunderbares Sackhüpfen sei »68« gewesen, sagt der große italienische Linksradikale Adriano Sofri über den zweifelhaften Sieg, »ich glaube, wir wurden Zweite«.

Die Jugendlichen der achtziger Jahre hatten keine Lust, das Sackhüpfen fortzusetzen. Die Punks der Siebziger hatten noch brav ihre Rebellenrolle erfüllt, die alle Welt seit den Sechzigern von Heranwachsenden erwartete. Die Aufsässigen der Achtziger fanden es rebellischer, nicht rebellisch zu sein. Rebellisch war nur, wer die richtigen Platten hörte und die richtigen Schuhe trug und das richtige Leben im falschen genoss Der 68er wurde vom Guerrillero zum Trottel, zum Moralisten im selbstgestrickten Pullover, zum Mahner mit Bee-Gees-Frisur, zum ewig jungen Spaßverderber.

Nachdem die Nach-68er fertig waren mit den 68ern, fielen die Vor-68er über die 68er her, pünktlich zum 25jährigen Jubiläum der Revolte. Die »antiautoritäre Erziehung« der 68er sei verantwortlich dafür, dass sich rechte »Mordbrenner als Avantgarde« (Helmut Schmidt) fühlen können; die »Maßstäbe« hätten sich »im ätzenden Säurebad der Kritik aufgelöst«, die »moralische Eigenbrötelei der 68er-Rebellen« habe »die Gemeinschaft auf dem Altar der Gesellschaft geopfert« (Theo Sommer); diese Generation habe »das Fehlen einer moralischen Substanz in der deutschen Gesellschaft« zu verantworten, habe »das Gefühl für Solidarität« geschwächt und den »moralischen Grundkonsens, auf dem die Entwicklung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beruhte, in Frage gestellt« (Kurt Sontheimer).

Als wäre Rudi Dutschke Bundeskanzler gewesen und er selber SDS-Führer, so macht Helmut Schmidt die »Entwicklung an unseren Schulen und Hochschulen« für das gegenwärtige »rücksichtslose Spekulantentum in Unternehmen« verantwortlich, natürlich auch für die »Gewalt im Fernsehen«.

Für die vielen Talkshows sollen die 68er auch verantwortlich sein, weil sie ja soviel diskutierten damals, für die Rauschgifttoten sowieso, für die Politikverdrossenheit, für Aids, sicher wird man ihnen irgendwann auch den Zweiten Weltkrieg anhängen, weil es ja die Eltern der 68er waren, die in den Krieg gezogen sind. So gern der Alt-68er verantwortlich wäre für alles Bunte, Schöne, Zivilisatorische, was diese Republik hat, so gern möchte der 68er-Hasser die Rebellion gern verantwortlich machen für alles Böse, Kaputte und Verfluchte.

Nur wenige gingen so weit wie der konservative Publizist Ludolf Herrmann und behaupteten, die Rebellion von 1968 habe mehr Werte zerstört als das Dritte Reich. Aber Hass auf ''68 ist ein weitverbreitetes Hobby und ist unter Alt-68ern, die sich ihrer Irrtümer schämen, ebenso verbreitet wie unter denen, die ihre Verachtung an dem Leben abarbeiten, das sie nicht geführt haben, als sie jung waren.

Zwischen »nichts bewirkt« und »alles ruiniert« pendeln die Rückblicke im Fünf-Jahres-Rhythmus der Gedenktage hin und her, und dass auch 1998 wieder alle auf 1968 starren und herum prügeln werden, liegt daran, dass die Nach-68er von der Vergeblichkeit aller großen Alternativen überzeugt waren und sind.

Auch die Techno-Bewegung, die antrat, »die Gesellschaft mehr zu verändern als die 68er« (FRONTPAGE), und die eine Zukunft ohne Rassismus, ohne Sexismus und ohne Gewalt vorleben wollte, ist nicht mehr als eine Partymaschine, aber auch nicht weniger.

Jede Generation ist fest davon überzeugt, dass die nachfolgende Generation verkommener und dümmer ist - und entbehrlich. Man mag darum Helmut Schmidt nachsehen, wenn er den »25jährigen von 1968« attestiert, »als 50jährige« hätten sie »keine ausreichende Führungskraft«. Schon damals, nach dem Tod von Benno Ohnesorg, hatte ein besorgter West-Berliner in einem Brief an den Asta der FU das kommen sehen: »Man bekommt Angst vor der Zukunft, weil man sich fragt, soll das einmal unsere führende Schicht werden? Heute stellen sie sich gegen Sicherheit und Ordnung mit Eiern und Tomaten, sie randalieren gegen jeden und alles. Was werden sie erst tun, wenn sie in den führenden Positionen stehen?«

Dass die Aktivisten des Aufstandes heute in diesen Höhen nicht zu finden sind, sei nicht verwunderlich, findet Apo-Forscher Lönnendonker, schließlich sei es ein Lob, den Wortführern einer antiautoritären Bewegung vorzuwerfen, sie hätten keine Führungsqualitäten. »In Italien«, sagt Friederike Hausmann, »sind die Apo-Führer nach oben gekommen, weil man sie reingelassen hat, da gab es keine Berufsverbote.« Einige ihrer SDS-Freunde hätten in der deutschen Wirtschaft Karriere gemacht, aber von denen spricht sie nicht mit Respekt, sondern mit Ironie.

Distanz zu halten »zum System« ist für viele 68er wichtig geblieben, also analysierende Voyeure der Gesellschaft zu sein, sich im Milieu der enttäuschten großen Hoffnung zu bewegen, wie eine Frau, der die große Liebe ihres Lebens davongelaufen ist und die sich nun mit einem Langweiler in einem Reihenhaus durchs Leben schlagen muss

Die Ansprüche an das Leben, gewachsen in den Jahren, als Geschichte wie das Produkt der eigenen Selbstverwirklichung schien, sind die wenigsten wieder losgeworden, die Karrieristen nicht, die Verweigerer nicht, die Verlierer nicht - sie unterscheiden sich nur dadurch, wie oft sie die Konfrontation mit diesen Ansprüchen zulassen.

Als kreative Unternehmer sind nur ein paar aufgefallen, einer ließ Brillen in Nicaragua fertigen und zum Nulltarif verkaufen, ein anderer produziert ökologische Putzmittel, doch bekannter sind die Unternehmerkinder geworden, die ihre Millionen beim Vietcong ließen oder in die Erforschung der Gesellschaft investierten. Diejenigen, die sich als Manager in den Kampf gegen das Großkapital stürzten, trafen in den Unternehmen auf eine Führungselite, die durch die Nazis darauf getrimmt waren, »nach den Maximen eines Generals« (CAPITAL) zu handeln: »Pflichterfüllung und letzter Einsatz«; 25 Jahre nach dem Beginn ihres langen Marsches mussten sich die Apo-Ökonomen vom Chef-Volkswirt der Deutschen Bank bescheinigen lassen, es sei »eine Katastrophe, dass jetzt im mittleren Management lauter ehemalige 68er sitzen«, die faul seien und träge und auf staatliche Konjunkturprogramme hofften.

Als die Konrad-Adenauer-Stiftung die Karrieren von hundert Apo-Veteranen durchleuchtete, fand sie keine »spektakulären Karrieren im Staatsdienst oder in der Wirtschaft«; bei einer Untersuchung der Lebensläufe deutscher Hochschullehrer fielen 25 ehemalige SDS-Aktivisten auf - nur Kämpfer »aus der dritten Reihe«, wie Lönnendonker meint, die aus der ersten Reihe hätten keine Chance gekriegt.

Eine neue Elite habe sich »die Wirtschaft« erhofft, als die Studenten Mitte der sechziger Jahre aufbegehrten, sagt Lönnendonker, also besser ausgebildete Hochschulabsolventen, praxisorientierter, weltoffener, selbständiger, deshalb habe die Wirtschaft mit der Hochschulreform sympathisiert. Denn mit den Ordinarienuniversitäten, mit der Hierarchiegesellschaft, mit den ständischen Strukturen der Adenauer-Republik war die beginnende neue industrielle Revolution nicht zu meistern.

Von »Reformstau« redeten damals die Gesellschaftskritiker und vom »Bildungsnotstand«; die Leitartiklerin Ulrike Meinhof forderte »wirtschaftliches Wachstum« und »mehr Gemeinwohl« und »mehr Rechtsstaat«; Rudi Dutschke kritisierte fehlende Demokratie in den Parteien, sie seien »nur noch Plattformen für Karrieristen«; Karl Jaspers beklagte »das Fortwursteln der Regierung« und die »Parteienoligarchie« und fragte ängstlich: »Wohin treibt die Bundesrepublik?«; all das liest sich heute wie ein Zusammenschnitt aus dem, was die beiden höchsten Kritiker der Republik, Richard von Weizsäcker und Roman Herzog, in den letzten Jahren an Politikschelte abgefeuert haben.

In ihrer innenpolitischen Ratlosigkeit gleicht die heutige Republik jener Mitte der sechziger Jahre. Der Polizist, sagt der Polizist Moldenhauer, sei der Seismograph der Gesellschaft, der merke als erster, wenn etwas schieflaufe im Land. 1966 hat er das gespürt, dann später mit den Atomkraftgegnern, dann mit den Hausbesetzern, aber jetzt sei da ein Beben in der Stadt, das ihn unruhig mache.

Er ist seit 35 Jahren Polizist und ist stolz darauf, nie einen Menschen mit dem Knüppel geschlagen zu haben, »nur mal einen Besoffenen mit dem Handschuh ins Gesicht«. Irgendwo zwischen Ordner, Sozialarbeiter und Pfarrer sieht er seinen Job, ein Polizist brauche »soziales Empfinden« und müsse »Aggressionen abbauen«; das klingt, als rede Dutschke. Moldenhauer ist Leitender Polizeidirektor und plant die Großeinsätze in Berlin, auch jedes Jahr die Schlacht zum 1. Mai.

Das ist immer wie ein Geländespiel, wie ein Videospiel, mit Scharen von Kindern hat man es da zu tun, und die werden immer jünger, aber nicht das ist es, was ihn unruhig macht. Da wachse etwas heran in den nächsten Jahren, das gefährlicher sei als ''67, und dem ist er begegnet, als er am Reichstag den Hass in den Gesichtern der demonstrierenden Bauarbeiter gesehen hat. »40 000 von denen sind hier arbeitslos, und 35 000 ausländische Arbeiter arbeiten auf den Baustellen. Das war diesmal schon haarscharf am Rand, das hätte schon jetzt explodieren können.« Wenn es soweit ist, möchte er nicht mehr Polizist sein.

Einen Teil seiner Probleme hat dieses Land trotz ''68, einen Teil wegen ''68. Trotz ''68, weil der Abbau des bürokratischen Obrigkeitsstaates irgendwo steckenblieb zwischen RAF-Terror und Staatsschutz und weil die Apo daran scheiterte, Partei zu werden und die Parteienoligarchie aufzubrechen; wegen ''68, weil sich aus der Konkursmasse der kritischen Bewegung ein zäher kritischer Brei entwickelt hat, der sofort und automatisch über alles schwappt, was neu ist, seien es neue Ideen, Anrufbeantworter, Hollywood-Filme, Schulcomputer oder Handys.

Die Deutschen vom Prinzip »Misstrauen« wieder auf das Prinzip »Hoffnung« umzustimmen, hat Gerhard Schröder übernommen, er möchte nun in den Gen-, Bio- und sonstigen Technologien vor allem Chancen und nicht Risiken sehen. Auf dem SPD-Kongreß »Innovationen für Deutschland« redeten er und andere führende Sozialdemokraten zwar viel von »Zukunft«, »Modernisierungsstrategie« und »2000«, aber es klang mehr nach »1960« und »Ludwig Erhard«. Vor allem auf Wachstum setzt Schröder wieder, an den Unternehmer und den Markt glaubt er, und auf die USA lässt er nichts kommen. Fast nebenbei räumte er das ab, was durch ''68 und danach in die SPD gesickert war, also vor allem die Hoffnung, der Staat könne immer mehr Schreibtische hinstellen, und die Illusion, der Kapitalismus könne auf dem Verwaltungswege sozialistisch werden.

Schröder gehöre zu den Menschen, sagt Friederike Hausmann, bei denen es ihr noch immer kalt den Rücken runterlaufe. Moderner als Kohl, glatter als Clinton, blasser als Blair, »der Gegentyp zu einem 68er«. Dem könne man nicht böse sein, sagt Lönnendonker, »der ist sich treu geblieben«, der sei schon damals so gewesen. Man brauche einen Feind, predigt er seinen Studenten, wenn sie bei ihm im Apo-Archiv sitzen und fragen, was man als Student heute von ''68 lernen könne. Deren Situation sei so mies, die rechtfertige jede Revolte, »aber sie ist so mies, da macht keiner eine Revolte, da reißt er lieber Seiten aus den juristischen Lehrbüchern, damit sie der andere nicht lesen kann«.

Die Tür fliegt auf, sein Büronachbar Bernd Rabehl, ein alter Kampfgefährte von Dutschke und jetzt Archivar dank Lönnendonkers Fürsprache, schaut herein und fragt: »Was bist du so erregt, was ist los, ich dachte schon, du telefonierst mit deinem Steuerberater.«

Friederike Hausmann müsste heute noch leben.


Der Polizist Hartmut Moldenhauer war nach seiner Pensionierung ehrenamtlich tätig bei der Polizeihistorischen Sammlung Berlin und äußert sich hier zur Hausbesetzerszene.


Siegward Lönnendonker ist 2022 verstorben.



Aus der KI-Angabe von google hab ich folgende Zusammenfassung zur Auswirkung der 68-er Bewegung kopiert:

Die 68er-Revolte, auch bekannt als Studentenbewegung, hatte weitreichende Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft. Sie führte zu einer Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, veränderte Geschlechterrollen und förderte die Teilhabe von Minderheiten am öffentlichen Leben. 

Gesellschaftliche Veränderungen:

  • Liberalisierung und Demokratisierung:

    Die 68er-Bewegung trug dazu bei, die Bundesrepublik von einer als "verkrustet" empfundenen Gesellschaft zu einer modernen, liberaleren Gesellschaft zu entwickeln. 

  • Veränderte Geschlechterrollen:

    Die Bewegung trug zur Emanzipation der Frau bei und thematisierte die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. 

  • Mehr Teilhabe:

    Die 68er-Bewegung forderte mehr Teilhabe für Minderheiten und setzte sich für eine offene Gesellschaft ein. 

  • Neue Lebensweisen:

    Die Bewegung förderte neue Lebensstile und eine größere Offenheit für andere Lebensentwürfe und Werte. 

  • Kritik an Autoritäten:

    Die 68er-Bewegung übte Kritik an traditionellen Autoritäten und hinterfragte bestehende Strukturen. 

  • Bürgerinitiativen:

    Die Bewegung war ein wichtiger Impulsgeber für die Entstehung von Bürgerinitiativen und die aktive Teilnahme am politischen Geschehen. 

Weitere Ergebnisse:

  • Bildungsreformen:

    Die Studentenproteste führten zu Reformen im Bildungssystem und einer stärkeren Berücksichtigung der Bedürfnisse der Studierenden. 

  • Kulturwandel:

    Die 68er-Bewegung hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Kultur und trug zur Entstehung einer Gegenkultur und alternativer Milieus bei. 

  • Freie Rede:

    Die Forderung nach freier Rede wurde zu einem wichtigen politischen Element und ist bis heute ein wichtiges Gut. 

  • Antiautoritäre Erziehung:

    Die Bewegung setzte sich für eine antiautoritäre Erziehung ein und hinterfragte traditionelle Erziehungsmodelle. 

Die 68er-Bewegung war also nicht nur eine Protestbewegung, sondern auch eine Bewegung, die tiefgreifende Veränderungen in der deutschen Gesellschaft angestoßen hat, die bis heute nachwirken. 

Eine umfassende Dokumentation zu den 68-ern gibt es hier von der Bundeszentrale für politische Bildung .

Im nächsten Post werde ich mein 68 darstellen ....

26.02.25

Bettina Wegner

 Vor einiger Zeit hab ich ein Lied gesucht, das so vieles ausdrückt: 

Titel Kinder

Sind so kleine Hände
Winz′ge Finger dran
Darf man nie drauf schlagen
Die zerbrechen dann

Sind so kleine Füße
Mit so kleinen Zeh'n
Darf man nie drauf treten
Könn′ sie sonst nicht geh'n

Sind so kleine Ohren
Scharf und ihr erlaubt
Darf man nie zerbrüllen
Werden davon taub

Sind so schöne Münder
Sprechen alles aus
Darf man nie verbieten
Kommt sonst nichts mehr raus

Sind so klare Augen
Die noch alles seh'n
Darf man nie verbinden
Könn′ sie nichts versteh′n

Sind so kleine Seelen
Offen und ganz frei
Darf man niemals quälen
Geh'n kaputt dabei

Ist so ′n kleines Rückgrat
Sieht man fast noch nicht
Darf man niemals beugen
Weil es sonst zerbricht

Grade, klare Menschen
Wär'n ein schönes Ziel
Leute ohne Rückgrat
Hab′n wir schon zu viel

Das Lied wurde schon von Joan Baez gesungen und ist entstanden ca.1976

Die Autorin und Interpretin ist aber Bettina Wegner ! (Jahrgang 47 und noch lebendig)

1978

2022
Ihr Leben und ihre Kunst sind stark verbunden mit der Geschichte der DDR. In Deutschlandfunk Kultur hat sie 2022 davon einiges erzählt und auch beim Kanal MISS-VERSTEHEN SIE MICH RICHTIG gibt es ein Gespräch mit über eineinhalb Stunden ...

2022 hat sie das Lied Kinder nochmal gesungen:

In einem Dokumentarfilm , der bei der 72.Berlinale 2022 gezeigt wurde, werden die 10 Gebote der Bettina Wegner aufgezeigt (und das mit 700 Euro Rente ...) :

aufrecht stehn, wenn andere sitzen


Wind zu sein, wenn andre schwitzen


lauter schrein, wenn andre schweigen


beim Versteckspiel sich zu zeigen


nie als andrer zu erscheinen


bei Verletzung nicht mehr weinen


Hoffnung haben beim Ertrinken


nicht im Wohlstand zu versinken


einen Feind zum Feinde machen


Solidarität mit Schwachen


Und ich hab sie nie gebrochen bis auf ein Gebot

Bei Verletzung wein ich manchmal, was ich mir verbot.

Das Lied Gebote hier / Das Büchlein Gebote hier




03.02.25

Miosga / Weidel

 Gestern hab ich mir die Sendung mit Caren Miosga angesehen: 

Was für ein Deutschland wollen Sie, Frau Weidel?

Bei t-online oder Stuttgarter Zeitung kann man Zusammenfassungen der wichtigsten Punkte nachlesen.


Mich hat im Nachhinein die Gesprächsführung interessiert. Zweimal kam von Weigel gegenüber Miosga der geäußerte Vorwurf rüber: "Sie framen mich" 
Dazu habe ich bei GEO dann einen aufschlussreichen Artikel gefunden:

Framing: Wenn das eigene Denken durch gezielte Kommunikation fremdbestimmt wird

Wenn ich dann mir das Ganze weiter überlege, scheint es aber so zu sein, dass eher der immer wieder von AFD Seite geäußerte Vorwurf besteht, dass allein die Fragestellungen der (linken, kritischen) Medien das Publikum so weit manipuliert, dass die AFD als rechtsradikal wahrgenommen werden soll.

Sie stellen sich als bürgerliche und demokratische Partei dar. Und das sind sie in großen Teilen auch: Demokratisch gewählt und orientiert an kulturellen Werten des "Normalen". Was immer wieder geleugnet wird ist, dass ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder und auch Amtsinhaber radikal nationalistische, völkische, rassistische und faschistische Anwandlungen haben. 

Und Dr. Alice Weidel bedient hier in ihren Äußerungen alle Lager der Partei. Meinungsfreiheit wird immer wieder hervorgehoben ...

In meinen Recherchen über ihr Kommunikationsverhalten (auch während der Sendung) bin ich dann auf einen interessanten Artikel bei Zeit-online gestoßen:
Alice Weidel war Gast in der Talkshow von Caren Miosga. Kondensiert sah man, welche Rollen die AfD-Kanzlerkandidatin öffentlich darbietet. Ein rhetorisches Lehrstück

Um den Artikel überhaupt lesen zu können, hab ich erst mal ein kurzfristiges Abo abgeschlossen. Ich fand dann den Artikel so gut, dass ich hier jetzt einfach mal zeige:

Sie probiert die Staatsschauspielerin


Alice Weidel war Gast in der Talkshow von Caren Miosga. Kondensiert sah man, welche Rollen die AfD-Kanzlerkandidatin öffentlich darbietet. Ein rhetorisches Lehrstück


Auch wer sich wünscht, sie wäre unsichtbar, einfach nicht da: In diesen Tagen führt kein Weg an Alice Weidel vorbei. Am Sonntagabend war sie zu Gast in der ARD-Talkshow von Caren Miosga, und jeder Zuschauer konnte sehen: Die AfD-Spitzenkandidatin hat ihre Selbstinszenierung weiterentwickelt, sie beherrschte zwischenzeitlich das Gespräch, sie hat Momentum. Es ist also höchste Zeit, sich ihre rhetorischen Muster und Tricks noch einmal genauer anzuschauen.

Decoding Weidel, darum geht es.

Die Themen des Abends bei Caren Miosga: die vergangene Woche im Bundestag, Weidels Geschichtsbild, die Wirtschafts-, die Energie- und die Außenpolitik. Weidel sagte über die Zustimmung der AfD zu dem Entschließungsantrag und dem Gesetzentwurf der Union zur Migrationspolitik im Parlament wenige Tage später nun bei Miosga unter anderem: "Die Stimmen der AfD gestalten dieses Land." Aber ein echter Wechsel sei nur mit ihrer Partei möglich, auf die Union "kein Verlass".

Darüber hinaus hat Weidel an diesem Abend im Großen und Ganzen das gesagt, was Zuhörer und Zuhörerinnen vom aktuellen AfD-Parteitag im Januar oder aus früheren Interviews mit ihr kennen. Aber wie sie es gesagt hat, das war in der ersten Hälfte der Sendung überraschend, auch weitgehend ungesehen, manche würden sagen: unerhört. Und in der zweiten Hälfte waren einige rhetorische Muster zu beobachten, die Weidel seit Langem zu einer so schwierigen Gesprächspartnerin für Journalistinnen und Journalisten machen.


Ein für sie neuer Gestus

Weidel zeigte sich zunächst in ihrer neuesten Rolle: in der der Staatsschauspielerin. Diese hat sie besonders prominent am vorangegangenen Mittwoch im Bundestag vorgeführt, als es um den Entschließungsantrag der Union ging, dem die Stimmen der AfD-Fraktion schließlich zur Mehrheit verhalfen. Weidel hat im Bundestag eine im Ton (aber wirklich nur im Ton) geradezu staatstragende Rede gehalten. Sie bemühte sich dabei sichtlich, an eine bundesrepublikanische Vorstellung davon anzuknüpfen, was eine Staatsschauspielerin ausmacht, was einen Politiker ausmacht, der den Staat repräsentieren könnte, mit dem sich Staat machen ließe. Kennzeichnend dafür ist eine emotionale Ausnüchterung, die sich als eine historische Entwicklung von Franz-Josef Strauß zu Angela Merkel, von Herbert Wehner zu Olaf Scholz beschreiben lässt: Im Gegensatz zu früheren Generationen treten Politikerinnen und Politiker von heute im Ton gemäßigter auf, als personifizierte politische Vernunft mit menschlichem Antlitz. Diesen für sie neuen Gestus hat Weidel am vergangenen Mittwoch im Bundestag vorgeführt – und in der Sendung von Caren Miosga zunächst nahtlos daran angeknüpft. Es gehe ihr "nicht um Parteien, sondern um das Land", sagte Weidel. Und: "Sobald die Politik für unser Land in die richtige Richtung weist, kann man sich auf uns verlassen."

Die AfD-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl am 23. Februar trat zuletzt zunehmend so auf, als könne sie morgen in eine Koalition eintreten, als würde sie sich den Konventionen des politischen Betriebs beugen. Weidel wirkt so wie eine Politikerin, die wegen ihrer politischen Überzeugungen angreifbar bleibt, aber kein Paria mehr der Form nach ist. Sie arbeitet rein äußerlich an ihrer und der Wählbarkeit der AfD. Inhaltlich kann Weidel diese Rolle jedoch nicht allzu lange durchhalten, will sie offenbar auch nicht.


Sie sprach bei Miosga verächtlich über den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk ("Er ist links, und dementsprechend sagt das doch eigentlich alles") und nannte ihre politischen Gegner vor ein paar Tagen im Bundestag "extremistische Fanatiker der schrankenlosen Migration" und "Industriezerstörer". Zwischendurch beleidigte sie den Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, noch als "infantil".


Weidel verrutschten sowohl im Bundestag wie bei Miosga auch ein paar Mikrogesten, sie überzog bei den pathetischen Pausen und nutzte abgegriffene Aufzählungen ("jeden Tag, jede Woche, jeden Monat", sagte sie bei ihrer Bundestagsrede). Sie zwang ihr Kinn seltsam weit nach unten, wenn sie Gravitas herstellen wollte. Mit Mühe unterdrückte sie hier und da ein siegesgewisses Lächeln. Aber viel, das gehört zur Wahrheit, viel fehlte nicht zu einer in der Form ziemlich gelungenen Inszenierung als Staatsschauspielerin.


Im aktuellen Wahlkampf wirkt Alice Weidel noch aus einem anderen Grund stärker als zuvor. Bevor Fragen zur Migrationspolitik ins Zentrum der politischen Debatten rückten, lief der Wahlkampf auf einen über die Wirtschafts- und Finanzpolitik hinaus. Weidel fühlt sich in diesen Themen augenscheinlich wohl und referiert gern in flüssigem Unternehmerberaterinnen-Jargon ("kameralistische Haushaltsführung", "Cashflow", "impliziten Staatsschulden", Verpflichtungen "abgezinst in die Gegenwart"). Ihre jüngsten Interviews in ARD und ZDF waren in dieser Hinsicht schon bemerkenswert: Weidel in den tagesthemen mit Jessy Wellmer, in den heute-Nachrichten mit Christian Sievers und in der ARD-Talkshow von Sandra Maischberger.


Aber bei Miosga setzte Weidel noch eins drauf und antwortet auf die Frage, warum sie zur D-Mark zurückwolle, in perfektem Wirtschaftskauderwelsch: "Der Euro wird nicht Bestand haben. Er ist aufgespannt über mehrere Volkswirtschaften und eine hochinflationäre Währung, weil wir eine gigantische Bilanzausweitung der EZB (Europäische Zentralbank, Anmerkung des Autors) haben, und was wir in den Targetsalden drinhaben, das ist unser Wohlstand, der verloren geht." Alles klar?


Weidel versucht gar nicht, diese Begriffe für das Publikum zu übersetzen, sondern setzt den Jargon ein, um Journalisten, die sie interviewen, dumm aussehen zu lassen. In der Sendung von Caren Miosga probierte sie es sogar gleich mit drei Gesprächspartnern, denn mit am Tisch saßen Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der Welt, und die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie, Hildegard Müller. Weidel: "Das versteht doch nicht jeder. Das ist auch völlig egal." Weidel inszeniert sich hier als Expertin, die in der längsten Wirtschaftskrise der vergangenen 20 Jahre in Deutschland über das nötige Wissen verfüge. Aber weiß sie wirklich, wovon sie spricht (siehe EZB)? Versteht sie die Konsequenzen ihrer Forderungen in aller Tiefe (zurück zur D-Mark)?


Bisher wurde Alice Weidel in keinem Fernsehinterview in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen so sehr herausgefordert, dass sie an ihre Grenzen gestoßen wäre, denn ARD und ZDF beschäftigen nur wenige Journalisten, die tiefe Kenntnis von Wirtschafts- und Steuerpolitik haben. Unter Moderatoren und in ihren Redaktionen ist dieser Mangel noch ausgeprägter. Was es da braucht, deutete die ehemalige Politikerin und heutige Funktionärin Hildegard Müller an, als sie Weidel bei Miosga mehrmals mit tiefem Sachwissen aus der Realität der Autobranche konfrontierte, Weidel auch bei einer Zahl korrigierte und gegen Ende der Sendung zusammenfassend sagte: "Bei den Dingen, die sie kritisieren, mögen Sie richtige Punkte antippen, aber ihre Vorschläge und Forderungen bringen keine Lösungen, die den Menschen in diesem Land helfen."


An diesem Abend bei Miosga war auch erneut zu sehen, wie Alice Weidel auf Journalisten blickt. Eigentlich gibt es zwischen Politikern und Journalisten ein paar Konventionen. Beide Seiten müssen sich nicht mögen, aber sie wissen, dass die einen kritisch fragen und die anderen ausweichen oder sich erklären. Und trotz der unterschiedlichen Rollen (und Meinungen) gehen beide Seiten respektvoll miteinander um. Weidel ist augenscheinlich davon überzeugt, dass ihr diese Fairness bei ARD und ZDF nie entgegengebracht wird. Das sagt sie immer wieder – und gelegentlich konnten auch Zuschauer diesen Eindruck gewinnen, beispielsweise im Sommerinterview 2023 mit Markus Preiß in der ARD. Zugleich weiß sich Weidel mit ihrer Kernklientel hier einig: Nirgendwo ist die Ablehnung gerade des öffentlich-rechtlichen Rundfunks größer als in der AfD-Wählerschaft.


"Quark"

Weidel bricht inzwischen bewusst mit den Konventionen und verbirgt diese Verachtung für viele Journalisten nicht, sie setzt sie vielmehr offensiv ein und spricht mit den Journalisten, als seien diese unprofessionell und schwer von Begriff. Weidel zu Miosga: "Weil Sie nicht wissen, worum es geht" und "Sie kommen mir hier mit diesem ganzen Quark um die Ecke". Weidel zu Wellmer: "Haben Sie das verstanden?" Und: "Sie müssen unsere Sachen lesen, bevor Sie mich fragen … dann haben Sie auch einen Sachstand." Weidel zu Sievers: "Ich möchte Ihnen noch etwas erklären. Wissen Sie eigentlich …?" Ihr liebstes Wort für unliebsame Journalisten ist "unseriös". So gerät ein Interview mit Weidel immer wieder zum rhetorischen Frontalzusammenstoß, bei dem es nur noch darum geht, wer das letzte Wort hat.


Es dauert auch nie lange, bis in einem Interview sichtbar Wut in der AfD-Politikerin aufsteigt. Dann wird Weidel unruhig, kann sich oft nur schwer beherrschen, sie wirft den Kopf zurück und ihre Finger machen sich selbständig, sie knetet sie, verschränkt sie, die Fingerspitzen immer in Bewegung. Wenn dann auch noch eine Journalistin wie Jessy Wellmer eine Frage an sie stellt, werden Weidels Augen groß, sie zeigt ihre Zähne, und nur gelegentlich ist es ein überlegendes Lächeln. Gerade in dem Austausch mit Wellmer erinnerte es eher an aggressives Zähne zeigen.


In der ersten halben Stunde bei Caren Miosga hielt Weidel ihre Rolle als Staatsschauspielerin durch, aber sobald es um Weidels Verständnis der deutschen Geschichte ging und später um die Wirtschaftspolitik, da konnte man alle Anzeichen ihrer Weidel-Wut wieder beobachten. Die AfD-Kanzlerkandidatin presste, je länger die Sendung dauerte, ihre Sätze in rascherer Abfolge heraus, wobei sie die zweite Hälfte ihrer Argumente oft abhackte oder unter dem nächsten Gedanken begrub. Ließ sich diese Wut vor zwei Jahren aber noch als Schwäche lesen, Weidel wirkte damals vor allem unsortiert, scheint die Politikerin sie inzwischen selbstbewusst einzusetzen. Sie lässt der Wut freieren Lauf, und so entsteht der Eindruck: Da spricht eine Frau, die wahnsinnig viel, durchaus aggressive Energie hat. Sie verkörpert dadurch auch die Wut ihrer Wählerinnen und Wähler – und trägt sie jedem Zuschauer ins Haus.


Damit schließt sich der Kreis. Wirtschaftskrise und Haushaltskrise passen in diesem Wahlkampf zum sachpolitischen Profil von Alice Weidel, und ergänzt durch ihre neue Pose als Staatsschauspielerin gelingt es ihr derzeit vergleichsweise oft, eine Interviewsituation im Fernsehen zu kontrollieren. Wird es für sie doch einmal eng, dann hat sie immer noch die Wut-Weidel in der Hinterhand – oder anders gesagt die Eskalationsdominanz.